Wenn nur dein Lächeln bleibt
auf seiner Matte lag.
»Hee! Süße! Mach es mir doch nicht so schwer! Sabine hat auch ein Recht auf Zuwendung!«
Keine Antwort. Kein Glucksen oder Quietschen. Kein Fuchteln mit den Armen. Kein Drehen des Kop fes in meine Richtung.
Das Baby hatte seine Händchen in meine Brust gekrallt und sah mich unverwandt an, während es trank.
Dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, endlich, endlich normale Mutterfreuden auskosten zu dürfen, wurde von meinem schlechten Gewissen Anja gegenüber überschattet. Hätte ich doch kein zweites Kind mehr bekommen dürfen? Ließ Anjas schwere Behinderung einfach keine geteilte Mutterliebe zu?
Während ich da so ausgelaugt auf dem Sofa saß, reifte in mir ein Gedanke heran, der sich immer schwerer vertreiben ließ.
Anja nahm nun seit Jahren diese Tabletten. Sie war ständig verschleimt und musste abgesaugt werden. Die Tabletten machten sie zunehmend apathisch. Sie behinderten jede weitere Entwicklung. Eigentlich waren sie das reinste Gift.
Was, wenn ich meinen Mutterschaftsurlaub auch dazu benutzte, sie … nun sagen wir mal … ganz klammheimlich und allmählich von diesen Tabletten zu befreien? Würde sie dann wieder mehr am Fami lienleben teilnehmen? Würde sie dann auf ihre Schwes ter reagieren und nicht mehr so leiden? Wenn die Krampfanfälle wiederkamen, konnte ich die Dosis sofort wieder erhöhen.
Es war zwar ein höchst eigenmächtiges Handeln, aber inzwischen war ich mir sicher, dass der Krampfarzt, Dr. Wolf, den wir regelmäßig mit Anja konsultierten, unser Kind als Versuchskaninchen betrachtete. Er wechselte ständig die Tabletten, probierte dieses und jenes aus und verschrieb wahllos neue Medikamente.
Auf Anjas Kosten.
Ich konnte sie ganz langsam ausschleichen! Nicht von heute auf morgen natürlich, aber die Dosis ganz behutsam, bedächtig verringern.
»Na, Anja? Sollen wir mit der Tablettenfresserei aufhören?«
Ja. Das war ein guter Gedanke. Wenn nicht jetzt, wann denn dann? In der Behinderten-Einrichtung wurden ihr die vermaledeiten Tabletten dreimal täglich eingeflößt. Gemäß der ärztlichen Anordnung. Selbst wenn ich gesagt hätte, wir lassen die Dinger jetzt mal weg, hätten die Betreuerinnen Anja das Zeug weiter verabreicht. Denn Vorschrift ist Vorschrift.
Doch hier, zu Hause, konnte ich die Verantwortung für mein Kind selbst übernehmen. Ich durfte Anja halt nur nicht mehr in die Einrichtung schicken. Sie würde sich an ihr Schwesterchen gewöhnen. Ich würde sie in alles mit einbeziehen. Ihr das Gefühl vermitteln, dass sie die große Schwester ist.
Das bedeutete zwar einen ungeheuren Mehraufwand. Ich konnte schließlich schlecht mit Kinderwagen UND Rollstuhl durch die Straßen spazieren. So manche Mutter hätte sich das vielleicht nicht angetan. So manche Mutter hätte das behinderte Kind gerade jetzt in die Einrichtung abgeschoben, um die schöne Zeit mit dem gesunden Baby zu genießen. Und ich hätte es ihr auch nicht übel genommen.
Aber ich entschied mich anders.
Ich entschied mich für Anja.
Nach einem halben Jahr war Anja schleimfrei, tablettenfrei und nahm wieder jauchzend und staunend an unserem turbulenten Leben teil. Sie reagierte begeistert auf ihr Schwesterchen, und die Absaugpumpe lag unbenutzt in einer Schublade. Ich hatte es geschafft! Ich hatte die Dosis behutsam verringert und ständig ein besorgtes Auge auf Anja geworfen, in ängstlicher Erwartung des nächsten Krampfanfalls. Sie hatte zwi schen Bernd und mir im Ehebett geschlafen, damit wir ihr sofort hätten helfen können.
Während dieser Zeit stillte ich auch noch zweimal nachts.
Wann ich geschlafen habe, weiß ich nicht mehr. Aber dieser Akt der Mutterliebe wurde reich belohnt.
Blieb nur noch der gefürchtete Gang zu Dr. Wolf, dem Krampfarzt. Ich brauchte seinen Segen für mein verbotenes Tun: ohne amtsärztliche Bescheinigung, dass Anja keine Tabletten mehr brauchte, würden sie in der Tageseinrichtung wieder mit dem Teufelszeug beginnen.
Natürlich hatte ich eigenmächtig gehandelt. Natürlich hatte ich mich damit strafbar gemacht.
»Oh, Bernd, ich fürchte mich so vor Dr. Wolf!«, wimmerte ich, als der Arztbesuch vor der Tür stand.
»Liebes, du hast das fantastisch gemacht, du warst tapfer und stark und hast dein Ding durchgezogen. Das muss dieser studierte Halbgott in Weiß doch zu würdigen wissen!«
»Wenn ich Pech habe, fühlt er sich in seiner Eitelkeit gekränkt«, stieß ich hervor.
Bernd legte beruhigend seinen Arm um meine Schulter.
»Ach was. Wenn
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