Wenn nur noch Asche bleibt
lebte und langsam dahinsiechte, ohne sterben zu können.
Er hatte seiner eigenen Schwester die Kehle durchgeschnitten und sie aus ihrem gelähmten Körper befreit. So, wie sie es unter Tränen von ihm verlangt hatte. Wenn sie eine Tochter der Götter war, warum hatte sich ihr Körper nicht selbst geheilt? Gab es Verletzungen, gegen die selbst magische Heilkräfte nichts ausrichten konnten?
Schwindelnd stand er auf und taumelte hinüber ins Dojo. Als er sich gegen die Fensterwand lehnte und auf das nächtliche Meer hinausblickte, klaffte schier unerträgliche Sehnsucht auf. Alles in ihm war in Aufruhr, alles war Verwirrung, doch ein Gefühl leuchtete klar und deutlich aus all dem Chaos.
Er vermisste Elena. Er sehnte sich nach ihr mit einer solchen Heftigkeit, dass es körperlich schmerzte. Aber waren es seine Gefühle oder Moa’ris? Wo fingen seine Emotionen an und hörten die des Geistes auf?
Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie alle waren durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden worden. Schicksalsfäden, die sich zu einem Netz verbanden und auf diese Weise irgendeinen übergeordneten Sinn ergaben. Er konnte es akzeptieren oder sich dagegen wehren.
Daniel versuchte, an Mary zu denken. Doch wieder und wieder wurde ihr Gesicht überlagert von geheimnisvollen, dunklen Augen und Haar, das glänzte wie die Federn eines schwarzen Aras.
Ixcha. Elena.
Dann fiel ihm etwas anderes ein. Etwas, das ihn mit blankem Entsetzen erfüllte. Wenn der Dieb der Kristalle Menschen tötete, um ihre Seelen in sich aufzunehmen, dann hatte er auch Mary mit diesem furchtbaren Schicksal gestraft. All die Jahre war er mit der Hoffnung eingeschlafen und aufgewacht, seine Frau hätte an einem Ort jenseits dieser Wirklichkeit ihren Frieden gefunden. Doch jetzt wurde ihm klar, dass dem nicht so war. Wenn der Maya die Wahrheit gesagt hatte – und seine Instinkte bestätigten das –, war Marys Seele eingesperrt. Sie wurde gefangen gehalten von einem Wahnsinnigen, oder war von ihm absorbiert und damit endgültig ausgelöscht worden.
Ihm wurde übel vor Schrecken. Er musste diesen Mistkerl finden und ihn töten. Vielleicht war das der einzige Weg, die Seelen zu befreien. Moa’ri war von dem Mann getötet worden, den sie seit Langem verfolgten. Was bedeutete, dass er sein Gesicht kennen musste. Mühsam um Konzentration ringend, lauschte Daniel in sein Inneres.
„Kannst du mir zeigen, wie er aussieht?“
„Nein.“ Es klang, als käme die Stimme aus weiter Ferne. „Alles, was ich gesehen habe, war das Gesicht eines alten Mannes, bedeckt von grauem Bart. Es ist fast zweihundert Jahre her. Und er war gezeichnet von Hunger und Krankheit.“
„Dann kannst du mir nicht helfen?“
„Nein, es tut mir leid. Aber wie ich schon sagte, er wird dich finden.“
12. Mai 2011, Portland Police Department
I
hre Konzentration ließ zu wünschen übrig. Elena starrte auf den Bildschirm, bis er zu flimmern begann, dachte mit hochrotem Kopf an die vergangene Nacht und fragte sich, was in sie gefahren war. Er musste sie für eine oberflächliche Nymphomanin halten. Ja und? Es war göttlich gewesen, zum Teufel.
Er hatte erfahren, welches grausame Schicksal seiner Frau widerfahren war, und sie hatte seine desolate Lage schamlos ausgenutzt. Ja, das hatte sie, aber zu einer Nacht wie der vergangenen gehörten immer zwei. Sie beide hatten Ablenkung gesucht und sich Hals über Kopf in eine Realitätsflucht gestürzt. Was war so schlimm daran? Abgesehen davon – wer hatte sie wie ein Liebesromanheld zum Sofa getragen? Und wie waren seine Worte gewesen?
„Geh, wenn du nicht willst, dass ich dir den Verstand aus dem Schädel vögel.“
Er stand ihr in nichts nach. Wahrlich nicht. Aber was dachte Daniel jetzt über sie? Und, verdammt, warum war ihr das so wichtig?
Elena pustete eine Haarsträhne aus der Stirn und begutachtete ihre Telefonliste. Zwei Dutzend Werkstätten, die sie wegen eines grünen Ford Mustang Baujahr 1964 zu löchern hatte, der ausgebrannt samt verkohltem Fahrer am Hafen gefunden worden war. Eine vergleichsweise langweilige Beschäftigung. Und solange nichts Greifbares über diese Sekte vorlag, würde sie weiter vor sich hindümpeln und Strafarbeiten am Schreibtisch verrichten.
Elena seufzte. Für das hier war sie einfach nicht geschaffen. Da hockte sie nach einer steilen Karriere plötzlich wieder inmitten eines Großraumbüros und war umgeben von unaufhörlichem Geschnatter, Getippe, Gefluche und
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