Wenn nur noch Asche bleibt
Kehlen.
Ein neues Bild entstand vor seinem inneren Auge. Er stand auf der abgeflachten Spitze einer Pyramide. Unter ihm erstreckte sich eine prachtvolle Stadt, umringt von dichtem Dschungel. Zahllose Menschen hatten sich zu Füßen des Monuments versammelt. Bronzene Körper, geschmückt mit Gold, Federn und Jade, leuchteten in der Sonne. Sie wiegten sich wie ein Wald in einem leichten Windzug, summten und beteten, und ihre Stimmen waren wie ein leises, kraftvolles Donnern, das die gesamte Welt erfüllte.
Vor ihm, in eine Art Mantel aus durchsichtigem, weißem Stoff gehüllt, saß Ixcha auf dem Boden. Zwei gleich gekleidete Frauen stützten seine Schwester, sodass sie sitzend über ihre Heimat blicken konnte. Daneben stand sein Vater. Das lange, schwarze Haar des Königs wehte im Wind wie ein schillernder Schleier, prachtvoller Schmuck bedeckte seine Schultern und die Brust. Er trug einen bis auf den Boden reichenden Rock aus strahlend weißem Stoff, gehalten von einem goldenen Gürtel. Der verlängerte Hinterkopf des Königs und die großen, mandelförmigen Augen unterschieden ihn von den gewöhnlichen Menschen, ebenso befanden sich sonderbare Tätowierungen auf seinem rechten Arm, ähnelten ineinander verschlungenen, dornigen Ranken, die so lebhaft in sämtlichen Rottönen schillerten, als wären sie lebendig.
Als sein Vater vortrat und die Hand auf das Gesicht des Mädchens legte, verstummte der Gesang der Menge. Ihm wurde übel, als er das Obsidianmesser in seiner Hand erblickte. Tief in sich wusste er, was seine Aufgabe war, doch er fürchtete sich. Er fürchtete sich so sehr, dass er glaubte, seine Beine müssten unter ihm nachgeben und seine Sinne schwinden. Doch er blieb aufrecht. Seine Haltung war stolz und unerschütterlich, so wie man es von ihm erwartete. Über ihm wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Schwärme rotgelber Aras flogen über die Stadt, um am nahen Fluss zu trinken. Nie wieder würde er mit Ixcha durch die grüne Dämmerung des Dschungels laufen. Niemals wieder würde er mit ihr Hand in Hand vor den unliebsamen Feierlichkeiten flüchten, um auf moosbewachsenen Ästen zu liegen und dem Lied des Waldes zuzuhören. Was hatte das Leben jetzt noch für einen Wert?
Der König schloss die Augen, strich dem Mädchen über Stirn und Wangen, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und wich zurück. Es wurde Zeit. Er musste tun, was man von ihm verlangte. Der Blick seiner Schwester verschleierte sich, ein Lächeln hob ihre Lippen. Ihr Geist war in das Himmelreich gegangen, und es war seine Aufgabe, den Körper folgen zu lassen.
Er trat zu ihr, darum betend, dass seine Beine ihm gehorchten, und während die Frauen zurückwichen, übernahm er behutsam ihren schlaffen Körper. Zart wie ein sterbender Vogel lag er in seinen Armen, rief so viele Erinnerungen wach. Ein Gefühl der Schuld schnürte ihm die Kehle zusammen. Tränen rannen über seine Wangen. Wenn er nur nicht gesprungen wäre …
Was musste man tun, um eine solche Strafe zu verdienen? Die Antwort lautete: Nichts.
Als er das Messer an ihren Hals legte, schwärte Hass in ihm. Wer oder was auch immer das Schicksal lenkte, er wünschte diesem Wesen ewige Verdammnis. Dank der Magie ihres Vaters spürte Ixcha keine Schmerzen. Ihr Körper blutete aus, zitterte, ergoss sein warmes Leben über seine Arme und Beine.
Dann war es vorbei.
Die Welt löste sich in Schwärze auf. Jahre vergingen in zeitloser Finsternis. Er spürte Äonen an sich vorbeiziehen wie ferne Schatten, bis es plötzlich kalt wurde. Um ihn herrschte die eisige Stille eines Gewölbes. Seines Gefängnisses. Alles, was er noch fühlte, war das monotone Summen des Kristalls, das einen Widerhall in seinem Körper fand. Jahrzehnte vergingen, Jahrhunderte. Nichts war ihm geblieben als Erinnerung. Er dämmerte dahin, ein lebender Toter in einem Grab, zu dem er verflucht worden war, weil er das Blut des Himmels in sich trug. Seine Schwester war gegangen, sein Vater zurückgekehrt in die ferne Welt, aus der er gekommen war.
Er jedoch wartete in der nassen, kalten Dunkelheit auf seine Erlösung. Auf die Rückkehr der Götter und auf ein Wiedersehen mit dem Leben.
Daniel erwachte auf dem roten Baldachinsofa. Seine Wangen waren tränenfeucht. Eine Last presste ihre Faust um sein Herz, dass ihm jeder Atemzug wie eine Qual erschien. Die Finsternis der Jahrtausende war in ihm. Er wusste, wie die Ewigkeit sich anfühlte, wenn man gefangen war. Wenn man nur noch für Erinnerungen
Weitere Kostenlose Bücher