Wenn nur noch Asche bleibt
Gefüge der Dinge dem Zufall überlassen. Der Dieb der Kristalle saugt Seelen in sich auf und steigert damit seine Kraft. Er wollte damals auch meine Seele nehmen, doch ich konnte ihm entkommen. Inzwischen hat er eine Horde leicht zu manipulierender Menschen um sich geschart und macht sich einen Spaß aus seiner Jagd.“
„Warte!“ Daniel rieb sich die Schläfen. „Ich muss das erstmal ordnen. Der Mann, der die Kristalle stahl, ist also unser gesuchter Mörder? Warum hat er mich nicht schon längst angegriffen?“
„Weil er dich erst vor wenigen Monaten gefunden hat und weil er Angst hat. Wenn er durch deine Erinnerungen den dritten und letzten Kristall findet, hat er sein Ziel erreicht. Dann gibt es nichts mehr, wonach er streben kann. Insgeheim fürchtet er sich davor, die ultimative Macht zu erlangen. Denn danach gibt es nichts mehr.“
„Aber diese Angst hält ihn nicht lange auf?“
„Nein. Er wird zu dir kommen. Bald. Aber jetzt will ich dir endlich zeigen, was damals geschah. Ich will dir Ixchas Geschichte zeigen.“
Der Maya trat zu ihm hin, kniete nieder und legte beide Hände um Daniels Kopf. Er tat es zu schnell, als dass er sich hätte wehren können. Ihm wurde schwarz vor Augen, der Wirbelsturm riss ihn ein zweites Mal mit sich. Wieder erwachte er im Dschungel, doch diesmal fühlte es sich anders an. Realer, hässlicher. Tief in sich spürte er, dass etwas Furchtbares geschehen würde.
Ein Mädchen rannte kichernd durch den Wald. Er folgte ihr, spürte ein Lachen in seiner Kehle, das sich seltsam fremd anfühlte, genoss den wilden Lauf und knurrte entrüstet, als das Mädchen seinem Zugriff mit der Flinkheit einer Katze entwischte. Daniel wusste, dass er sich im Körper von Moa’ri befand, und vor ihm lief Ixcha, seine Schwester. Nasse Blätter streiften seinen Körper, der bis auf einen Schurz aus weißem, gefälteltem Stoff nackt war. Auch das Mädchen trug nur dieses eine Kleidungsstück. Ihre Glieder glänzten wie Bronze, während sie sich geschmeidig dehnten und streckten. Ein Knurren drang aus ihrer Kehle, als er sie einholte. Immer schneller rannte er, gefangen im Rausch des Laufens. Bald war er seiner Schwester ein ganzes Stück voraus. Vor ihm tauchte der Abgrund auf. Furchtlos hielt er darauf zu, sprang ab und streckte die Arme aus. Sein Körper erstarrte zu Stein, spannte sich bis zur letzten Faser an. Er fiel, stürzte immer schneller auf das grün schillernde Wasser zu, das einen runden Krater füllte. Kurz vor dem Aufprall streckte er die Arme nach vorn, legte die Handflächen zusammen und wurde zu einem Speer, der die harte Oberfläche durchstieß.
Eisige Kälte zog seine Lungen zusammen. Er drehte sich im Wasser, tat einige kräftige Schwimmzüge und tauchte wieder auf. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie seine Schwester sprang. Ihr wunderschöner, junger Körper glänzte im Sonnenlicht, ihr Haar war wie die Federn eines schwarzen Aras. Doch etwas stimmte nicht. War es eine Windböe? Ein Muskelkrampf? Ihr Körper kippte nach vorn, hilflos wie ein Blatt im Sturm, und als sie mit mörderischer Wucht rücklings auf das Wasser krachte, gefror alles in ihm zu namenlosem Schrecken.
Aus dieser Höhe konnte jeder Fehler beim Sprung tödlich enden.
„Ixcha!“ Sein Schrei verhallte im schwärenden Dschungel. Er tauchte, sah ihren schlaffen Körper über der Tiefe schweben, packte ihn und zog ihn hoch. Einen Moment glaubte er, sie sei tot. Doch dann blickten ihre Augen ihn an. Riesig groß, voller Entsetzen.
„Ich fühle nichts mehr“, wisperte sie. „Bruder, ich fühle meinen Körper nicht. Hilf mir. Bitte hilf mir.“
„Alles wird gut, Ixcha. Keine Angst. Alles wird gut.“
Panik stieg in ihm auf. Es gab nur zwei Möglichkeiten, dem Krater zu entkommen. Man tauchte eine weite Strecke unter Wasser, bis man in eine Höhle kam, in der die Wände in allen Farben glitzerten. Dort gab es zwei Ausgänge. Oder man war stark genug, die senkrechten, von Lianen bewachsenen Wände des Kraters hinaufzuklettern. Beides hatten sie oft getan, doch jetzt waren sowohl das Tauchen wie auch das Klettern unmöglich. Er hielt seine Schwester über Wasser, so behutsam, wie es ihm möglich war, und dann schrie er. So laut er konnte. Irgendjemand musste ihnen helfen. Jemand musste sie hier finden. Er wusste, dass sein Vater spüren konnte, wenn sie in Gefahr waren. Seine Schreie gingen in Dunkelheit über, die ewig anzudauern schien und irgendwann zerrissen wurde von Gesang aus Tausenden
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