Wenn nur noch Asche bleibt
ließ sich etwa zwei Prozent Hilfreiches extrahieren. Halt, ermahnte sie sich. Denk positiv. Immerhin sind es zwei Prozent. Und wir wissen jetzt, dass nicht Christine das Brandopfer war. Was bedeutet, dass sie vielleicht noch lebt.
„Besaß deine Schwester zufällig einen Ring in Form einer Schlange?“, fragte Daniel. „Mit blauem Stein?“
„Ja.“ Julies Mund klappte auf. „Ich habe ihn ihr geschenkt. Letztes Jahr zu Weihnachten.“
„Dann ist die Sache leider ziemlich eindeutig. So leid es mir tut, aber heute Vormittag fanden wir den Schauplatz des Rituals, und in einem Haufen verkohlten Holzes lag der Ring deiner Schwester.“
Julie schluchzte erbärmlich. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, fiel in sich zusammen wie ein Körper, dem man sämtliche Knochen entfernt hatte, und vergoss bittere Tränen.
„Ich frage mich“, fuhr Daniel fort, „warum sie sich nicht bei uns gemeldet hat. Habt ihr den Bericht nicht gelesen?“
„Wir lesen keine Zeitung“, wimmerte Julie.
„Und die Nachrichten?“
„Wir sehen keine Nachrichten.“
„Was seht ihr euch dann an?“
„Vampire Diaries.“
„Na wunderbar.“ Daniel hob die Hände und ließ sie mit einem Augenverdreher wieder fallen. „Da stehen einem ja die Haare zu Berge. Wozu machen wir uns eigentlich die Mühe? Ihr seht keine Nachrichten, ihr lest keine Zeitung und haltet euch vermutlich auch sonst nicht mit unnötigem Denken auf. Hättet ihr vernünftig reagiert, wäre deine Schwester noch am Leben, denn ihr wäre klar gewesen, dass der merkwürdige Flattermann auf ihrem Handgelenk nichts Gutes bedeutet. Sie wäre ordnungsgemäß zu einem Arzt gegangen und anschließend bei uns hereingeschneit, was, wie ich mal als grobe Vermutung in den Raum werfe, allen Beteiligten geholfen hätte. Es hätte nämlich verhindert, dass sich deine Schwester in alle Winde verstreut.“
Julie starrte zitternd ins Leere. Ihre Lippen waren nur noch ein dünner, weißer Strich. Ein schier unerträglicher Anblick.
„Unsensibler Mistkerl!“ Elena schnappte sich das Telefon und wählte die Nummer der Zentrale. Nach zwei Klingentönen spulte eine strenge Frauenstimme den üblichen Text herunter.
„Portland Police Department, Virginia Blackmore, guten Tag?“
„Detective Winterblossom hier. Wir brauchen eine Seelsorgerin in Büro Nummer zehn. Und zwar umgehend. Danke.“
Sie legte auf, warf Daniel einen giftigen Blick zu und erkannte, dass ihn derselbe völlig kalt ließ. Unbeeindruckt betrachtete er den Nagel seines rechten Zeigefingers. Was zum Teufel ging vor in diesem Mann? Wie konnte er in der einen Minute sanft und zuvorkommend sein und in der anderen mit einer einzigen Bemerkung ein Mädchen in ein seelisches Wrack verwandeln?
„Es tut uns sehr leid, was passiert ist.“ Elena versuchte, Julie durch ein Lächeln zu beruhigen. Es fruchtete nichts. Das Wimmern des Mädchens nahm an Lautstärke zu. „Wir sind jederzeit für dich da, wenn du reden willst, okay? Oder wenn du Hilfe brauchst. Egal welcher Art. In Ordnung?“
Julie starrte apathisch auf ihre im Schoß verschränkten Hände. Als die Tür des Büros nach kaum einer Minute aufging und Catherine eintrat, die dralle, dunkelhäutige Seelsorgerin des Departments, erfüllte Elena eine nicht zu leugnende Erleichterung.
„Komm, Kleines.“ Catherine nahm das Mädchen unter ihre Fittiche und geleitete sie mit mütterlicher Fürsorglichkeit hinaus. „Das kommt schon wieder in Ordnung. Alles wird gut. Ich besorge dir jetzt erstmal einen Kakao, in Ordnung? Was hältst du davon?“
Die Tür wurde zugezogen, Stille hielt Einzug. Elena lauschte dem sich entfernenden Weinen des Mädchens und überlegte, wie sie reagieren sollte. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Jeder verlor irgendwann mal seine Contenance, doch seinen Hang zu sinnloser Grausamkeit an einem unschuldigen Mädchen auszulassen, ging zu weit.
„Alles wird gut.“ Daniel stieß ein gereiztes Schnaufen aus. „Ist es nicht witzig, wie penetrant der Mensch seinesgleichen anlügt? Je kranker die Gesellschaft wird, umso kranker werden auch die Lügen. Alles wird gut. Dass ich nicht lache. Nichts wird gut. Und es kotzt mich an, das jeden Tag miterleben zu müssen.“
„Ich frage mich eins.“ Elena holte tief und langsam Luft. Nur schön ruhig bleiben. Stets die Fassung wahren. Das trug reichere Früchte als ein Schlag mitten ins Gesicht. „Warum bist du nicht im chinesischen Niemandsland geblieben? Warum bist du zurückgekommen? Um
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