Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
blickten sich in die Augen und lächelten beide dabei, teils amüsiert, teils herausfordernd. Es war offensichtlich, dachte er resigniert, daß May entschlossen war, diese nur in ihrer Einbildung bestehende Situation bis ins letzte auszukosten.
3
Der nächste Tag war ein Samstag. Es konnte ja nicht anders sein, dachte Gaylord. Es hätte doch auch ein Montag, ein Dienstag, ein Mittwoch - kurz, jeder der fünf Schultage sein können. Aber nein, es mußte Samstag sein, der Tag, an dem es kein Entrinnen gab.
Er hatte versucht, sich im Klo einzuschließen. Aber selbst da gab es kein bißchen Privatleben mehr. Er war noch keine zehn Minuten drin, als Mummi an die Tür trommelte. «Gaylord! Bleib nicht den ganzen Tag da drin!»
Warum nicht? fragte er sich. Hier war man doch wenigstens sicher. Doch noch während er darüber nachdachte, hörte er die verhaßte Emma. «Ist Gaylord da drin, Tante May?»
«Ja», sagte Mummi. Sie läßt mich also auch im Stich, dachte Gaylord bitter. Aber was war von Mummi auch schon anderes zu erwarten?
Es war zwecklos, Gaylord kam heraus. «Das wurde aber auch Zeit», sagte Mummi. Emma schlug vor: «Komm, wir spielen Krankenhaus. Du bist der Patient, und ich nehme dir den Blinddarm raus.»
Gaylord war empört. Doch zu seiner Überraschung schlug sich Mummi ausnahmsweise mal auf seine Seite. «Ich glaube, bis zum Frühstück reicht die Zeit nicht für eine Operation, Emma.»
«Aber...»
«Nach dem Frühstück, Liebes.» Mummi blieb fest.
Es kam nicht oft vor, daß Gaylord Mummi dankbar war. Jetzt war er es. Dennoch war er von bösen Vorahnungen erfüllt. Und die Vorahnungen wurden zu blankem Entsetzen, als Emma mit der Miene ungeduldiger Erwartung und einer Schürze mit einem großen roten Kreuz auf der Brust am Frühstückstisch erschien; wild entschlossen schleppte sie einen Kasten herbei mit der Aufschrift .
«Was zum Teufel soll dieser Aufzug?» knurrte Opa.
«Sie will Gaylord nach dem Frühstück den Blinddarm herausnehmen», erklärte Mummi.
«Großer Gott.» Der alte Mann warf seinem Enkel einen Blick voll abgrundtiefem Mitleid zu.
Emmas porzellanblaue Augen wanderten zuversichtlich von einem zum anderen. «Ich hab schon alle Mädchen in meiner Klasse operiert», erklärte sie stolz. «Mary Jenkins hab ich einen Kaiserschnitt gemacht. Und Janet Watson hab ich das linke Bein abgenommen.»
Opa schaute sie mit unverhohlenem Abscheu an. «Du kleiner Vampir», sagte er.
«Was ist ein Vampir?» wollte Gaylord wissen. Er hätte sicher nicht gefragt, wenn er das Wort für schmeichelhaft gehalten hätte. Aber er ahnte, daß es das nicht war.
Stille in der Runde. Opa sah sich grollend um. «Na los, sag’s ihm doch einer», knurrte er.
«Er hat dich gefragt», sagte Paps. Vor zehn Uhr morgens war er nicht ansprechbar.
«Blödsinn. Du bist sein Vater. Und Wörter sind dein Metier. Du verbringst doch deine ganze Zeit mit Wortklaubereien.» Opa hielt nicht viel von der Schriftstellerei.
Paps sagte: «Ein Vampir? Nun, das ist so eine Art geschwätziges Gespenst.» Er wandte sich an seine Frau. Er haßte es, wenn er ein Wort nicht exakt definieren konnte. «Sie saugen den Leuten das Blut aus, nicht wahr, May?»
«Hm, jedenfalls taten das alle, die ich kennengelernt habe», antwortete May zerstreut. Sie mußte den Tisch abräumen, Amanda stillen, Betten machen, ein Mittagessen vorbereiten und hatte noch hundert andere Pflichten im Kopf. Bei ihrem ausgeprägten Sinn für das Praktische waren Vampire am Frühstückstisch eine reine Bagatelle.
Gaylord lehnte sich befriedigt in seinem Stuhl zurück. Ein geschwätziges Gespenst! Er hätte zwar das Wort Gespenst nicht gerade gewählt, um seine durchaus leibhaftige pummelige Kusine zu beschreiben, aber er war nicht auf Haarspaltereien aus. Wer Emma mit Schimpfnamen bedachte, hatte seine volle Unterstützung. Vampir. Du kleiner Vampir! Er packte das kostbare Wort sorgsam in geistige Watte und verstaute es behutsam in seinem Gedächtnis zu späterer Verwendung.
Jocelyn war an diesem Morgen nicht nach Schreiben zumute. Das hielt ihn jedoch nicht von der Arbeit ab. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben, wie es sich für einen guten Romancier gehört. Aber es bedeutete immerhin, daß er für Störungen empfänglicher war als sonst. Und die Störungen begannen beizeiten. Emma baute sich vor ihm auf und wiegte sich hin und her. Mit ihren pummeligen Händen hielt sie den Saum
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