Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
konnte nicht einfach gehen und sich der Verantwortung für einen Gast entziehen. «Also, Jocelyn, da wirst du was unternehmen müssen», bellte er.
«Was denn?» fragte Paps.
«Woher soll ich das wissen? Du wirst doch nicht erwarten, daß ich in meinem Alter das Gelände absuche.»
«Hier ist verdammt viel Gelände abzusuchen», sagte Jocelyn unlustig.
In diesem Augenblick ging die Wohnzimmertür auf. David stand blinzelnd im hellen Licht. May sagte rasch: «Hallo, da bist du ja. Hast du einen schönen Spaziergang gemacht?»
«Ja. Aber ich hab mich verlaufen. Komme ich zu spät?»
«Ja», sagte Opa und erhob sich. «Wir wollten gerade den Fluß nach dir absuchen. Gute Nacht allerseits.» Er sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Wütend stapfte er aus dem Zimmer, Groll in jedem Schritt.
May sah Davids angespanntes, verweintes Gesicht. «Komm, setz dich», sagte sie sanft. «Ich hol dir was zu essen. Jenny ist schon schlafen gegangen. Sie war müde.»
Als sie hinausging, machte er ihr die Tür auf. Sie schwebte mit einem freundlichen Lächeln hinaus. Jocelyn sagte: «Ein schöner Abend, nicht wahr?»
«Wunderschön. Kennst du den ?»
«Du meinst die Stelle... »
Der Junge nickte. Jocelyn sagte: «Ist das nicht herrlich, wenn man sich vorstellt, daß Shakespeare, als er das schrieb, vielleicht an eine mondhelle Nacht in den Feldern um Stratford dachte?»
«Ja», sagte der Junge. «Und Keats. Endymion.»
Jocelyn schwieg. Dann meinte er nachdenklich: «Kein Wunder, daß du dich verlaufen hast.» Er verstand besser als die meisten, daß das Mondlicht einen jungen Kopf berauschen mußte, der voll von Keatsscher Poesie war.
Endlich waren May und Jocelyn allein. Paps schlürfte seine Ovaltine. «May», meinte er, «wie findest du ihn?»
«Kalt und arrogant. Er beunruhigt mich. Weil ich glaube, daß seine Arroganz nur Fassade ist. Und ich weiß nicht, was dahintersteckt.»
Sie schwiegen. «Er ist ein Dichter», sagte Jocelyn. «Das Mondlicht hat ihn ganz verwirrt.»
May sagte: «Mir scheint, alle Poeten erwecken den Eindruck, nicht ganz bei - im Gleichgewicht zu sein. Schließlich leben sie ja auch nicht in der gleichen Welt wie wir, nicht wahr?»
Er reichte ihr die Kekse herüber. «Jenny wollte etwas über David sagen, als ich sie gestern abholte. Aber dann verschloß sie sich plötzlich wie eine Auster.»
«Was hat sie gesagt?»
«Sie fing an: Und dann wechselte sie das Thema.»
«Wahrscheinlich wollte sie sagen: , und fand es dann unfair. Nein, ich glaube, er ist einfach ein äußerst sensibler Junge, der verzweifelt versucht, über einen schweren Schock hinwegzukommen.»
«Und das gelingt ihm recht gut. Wenigstens hat er seine Tränen in aller Stille geweint.»
«Ja.» May blickte versonnen in ihren Becher. «Weißt du, diese dunkle, hübsche Arroganz kann schon ungeheuer attraktiv sein.» Wieder schwieg sie. Es war die rechte Stunde für langes Schweigen zwischen zwei Menschen, die sich so gut verstanden wie May und Jocelyn. «Sie ist auch nicht ohne», sagte sie schließlich.
«Wer?» fragte Paps, als ob er es nicht wußte.
«Jenny natürlich.»
Zu ihrer Verblüffung ließ diese harmlose Bemerkung ihren Mann nervös aufschrecken. Wenn er ein Pferd wäre, dachte sie, würde er jetzt wiehern und die Augen rollen. «Ja, wenn man sich’s recht überlegt, ist sie vielleicht wirklich ganz attraktiv», sagte er und versuchte verzweifelt den Eindruck zu erwecken, als habe er bislang keinen Gedanken daran verschwendet, und als sei Frauenschönheit etwas, das er nur dann bemerkte, wenn man ihn darauf aufmerksam machte.
«Wenn man sich’s so recht überlegt...» In Mummis Augen blitzte jener fröhlich neckende Spott, der Paps immer so unbehaglich war. «Ich wette, du hast über nichts anderes nachgedacht, seit sie hier ist.»
Nun, Angriff war immer noch die beste Verteidigung. «Allerdings, das stimmt», sagte Jocelyn. «Außerdem ist Imogen nicht nur attraktiv, sondern auch eine Frau von erstaunlicher Urteilskraft. Sie hält für einen der schönsten Romane, die je geschrieben wurden.» Er erhob sich und ging zur Tür. «Und nun entschuldige mich bitte - ich gehe zu Bett.»
Er lächelte sie an. Sie machte ein Gesicht wie eine Katze, die heimlich an der Sahne geleckt hat. «Liebling, dann hat sie ja genau das Richtige gesagt, nicht wahr?» Sie
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