Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
Gelächter ausbrechen, daß man vor Angst verrückt würde. Es gab wirklich nichts, was sich die hemmungslose kindliche Phantasie nicht auszumalen vermochte.
Dennoch stapfte er mit klopfendem Herzen in die Schatten hinein und dann jedesmal sehr erleichtert wieder heraus. Denn Gaylord hatte eine Mission. Und wenn Gaylord eine Mission zu erfüllen hatte, dann war er imstanden - zwar schlotternd vor Angst, aber dennoch zum Äußersten entschlossen - mitten durch die Hölle zu marschieren.
Normalerweise hätte er all dies auch am Tage erledigen können. Doch nicht jetzt, wo Emma jeden seiner Schritte belauerte. Nein,
neuerdings konnte man wichtige Dinge nur noch des Nachts unternehmen, wenn Emma nicht auf Posten war.
Er kam zu einem Lattentor, das krumm und schief zwischen zwei wuchtigen, steinernen Pfosten hing; auf jedem dieser Pfosten kauerte sprungbereit ein Löwe. Furchtsam musterte Gaylord die beiden Raubtiere. Er wußte, daß Steinlöwen tagsüber ungefährlich waren, aber er hatte wenig Erfahrung mit diesen Ungeheuern bei Mondschein, und ihr Anblick war ihm unbehaglich. Dennoch kletterte er über das Tor und ging auf der grasbewachsenen Einfahrt weiter. Immer wieder drehte er sich um, um sich zu vergewissern, ob nicht doch einer der Steinlöwen ihm fauchend auf den Fersen war.
Inzwischen konnte er sein Ziel erkennen - ein großes, halbverfallenes Gebäude, dessen blinde Augen blicklos in den blinden Mond starrten. Am Tage war dies ein herrlicher Tummelplatz für einen kleinen Jungen; Gaylord kannte hier jeden Winkel. Aber in dieser geisterhaften Beleuchtung sah alles ganz anders aus. Er hatte das deutliche Gefühl, daß das Haus nur darauf wartete, daß er näher kam, um sich mit einem Satz auf ihn zu stürzen. Seine Schritte wurden immer langsamer, kürzer und verhielten endlich. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Doch dann holte er tief Atem, drehte sich vorsorglich noch einmal nach den steinernen Löwen um und ging tapfer weiter.
Die großen Steinplatten der Terrasse waren noch warm von der Hitze des Tages. Gras und wilde Blumen wuchsen kniehoch aus den Ritzen. Die steinernen Götter und Göttinnen waren verwittert, grüne Flechten wuchsen auf ihren Brauen. Die halbverfallenen Fensterrahmen waren mit Brettern vernagelt, doch auch die Bretter verfielen schon. Alles war Tod und Verwesung in diesem tödlichen Licht, und die Natur wucherte triumphierend über die Spuren des Todes hinweg.
Einer der Steingötter bewegte sich. Gaylord hatte es aus den Augenwinkeln bemerkt. Tapfer drehte er sich um und schaute hin. Doch das Götterbild war wieder zu Stein geworden und blickte sinnend zu Boden - wie seit Jahrhunderten. Vielleicht war es nur ein Blatt gewesen, das sich in der stillen Nachtluft gerührt und im fleckigen Mondlicht bewegt hatte? Gaylord war dessen nicht so sicher. Er hatte so fürchterliche Angst, daß er sich wünschte, Mummi wäre hier. Oder besser noch Opa. Es müßte schon sein, Opa an diesem verwunschenen Ort breitbeinig neben sich zu haben und seine Hand in Opas große, schwere Pranke legen zu können. Keine steinernen Herren und nicht einmal steinerne Löwen würden es mit Opa aufnehmen wollen.
Aber Opa war nicht hier. Auch Mummi und Paps nicht. Gaylord war allein, das einzige menschliche Wesen weit und breit in einer Welt, die vom Mondlicht übergossen benommen dalag.
Gaylord wußte zwar, daß man in der englischen Landschaft nicht gut einem Braunbären begegnen konnte. Doch für einen Siebenjährigen ist es vom Unwahrscheinlichen bis zum Unmöglichen ein weiter Weg. Wenn er nicht seine Mission zu erfüllen gehabt hätte, wäre er jetzt fortgerannt - immer vorausgesetzt, daß ihn seine schlotternden Beine wirklich getragen hätten. So aber blieb er wie versteinert stehen und starrte in hellen Entsetzen auf das, was auf ihn zukam. Und dann sagte eine Stimme dicht neben ihm: «Hallo, Gaylord.»
Gaylord konnte später nie begreifen, wieso er nicht auf der Stelle tot umgefallen war. Alle Symptome hatten dafür gesprochen. Langsam, ganz langsam drehte er sich um - und blickte in das bleiche Vollmondgesicht seines Freundes Willie.
Für den Austausch von umständlichen Begrüßungsformeln war jetzt nicht die Zeit. «Da ist ein Bär», sagte Gaylord und zeigte mit dem Finger ins Dunkel.
Sie sahen hin. Nichts. Die Schatten unter den Bäumen schliefen.
Gaylord, obwohl er es sonst energisch abgestritten hätte, wußte sehr genau, daß er Wirklichkeit und Phantasie nicht immer zu trennen vermochte.
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