Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
Augenblick lang ging sein Atem rascher, dann fiel er wieder in den gleichmäßigen Rhythmus.
Es war gut gemacht, das Werk eines Künstlers. Aber schließlich war Gaylord immer ein Künstler, wenn es sich um subtile Täuschungsmanöver handelte. «Gaylord», flüsterte May.
Wieder stockte der Atem einen Augenblick, wurde unregelmäßig und beruhigte sich wieder. Man hätte meinen können, Gaylord würde nun bis zum Morgen tief durchschlafen.
May kniete sich neben das Bett, hielt ihr Gesicht dicht neben das des Jungen, schaute ihn unverwandt an. Denn das war etwas, dem Gaylord bei all seiner kindlichen List nie gewachsen war. Es war genauso schlimm, als würde man ihn kitzeln. Der Schatten eines Lächelns huschte um seinen Mund, dann verstärkte es sich zum Grinsen, und er schlug die Augen auf. Er tat sehr erstaunt, Mummi vor sich zu sehen, wiewohl er selbst nicht so recht an den Erfolg seiner mimischen Künste glaubte. Paps wäre auf sie hereingefallen, nicht so Mummi. Aber Paps hätte sich ja auch mit einem Blick durch die Tür begnügt, um festzustellen, daß Gaylord fest schlief. Es ist wirklich ein Jammer, dachte Gaylord, daß solch schlichtes Vertrauen nicht weiter verbreitet war. Jetzt würde Mummi natürlich wieder das übliche Kreuzverhör eröffnen. Kein schlichtes Vertrauen, was Mummi anging. «Warum schläfst du nicht?»
«Ich glaube, du hast mich geweckt, als du hereinkamst, Mummi», sagte er kleinlaut.
«Warum hast du denn dann so getan, als ob du schläfst?»
«Ich dachte, du würdest sonst böse sein.»
«Wieso denn, wenn ich dich doch aufgeweckt habe?»
Das wurde zu kompliziert. Er zog es vor, das Thema zu wechseln. «Mummi, du kennst doch das Märchen von dem Prinzen, der die Prinzessin nach hundert Jahren mit einem Kuß aufgeweckt hat?»
«Gaylord! Bleibe beim Thema! Warum hast du so getan, als ob du schläfst?»
«Ich tu immer so, als ob ich schlafe. Dann stellst du mir keine Fragen.»
Mummi war sprachlos. «Heißt das, du tust es nur um des lieben Friedens willen?» Du lieber Gott, dachte sie, für was für einen Drachen muß mich das Kind doch halten!
«So ungefähr», sagte Gaylord vergnügt. «Du, Mummi, diese Prinzessin. Die hatte sich doch hundert Jahre nicht die Zähne geputzt. Mummi...»
«Was hast du vorgehabt?» sagte May.
Gaylord sah gekränkt aus. «Nichts, Mummi. Ich war eben wach, das ist alles. Und dann bist du hereingekommen, und ich hab so getan, als ob ich schlafe. Dann hast du mich zum Lachen gebracht, und ich bin aufgewacht. Mummi, ich möchte keinen Menschen küssen, der sich hundert Jahre lang nicht die Zähne geputzt hat.»
«Jetzt wird geschlafen», sagte May energisch. «Ich werde die Vorhänge zuziehen, damit der Mond dich nicht stört.»
Dieses schreckliche, unheilvolle Mondlicht, dachte sie. «Gute Nacht, Liebling», sagte sie fürsorglich und küßte ihn. «Nacht, Nacht, Mummi», sagte er und kuschelte sich wieder zurecht. Sie schloß die Tür hinter sich. Na, das wäre aber beinahe schiefgegangen, dachte Gaylord. Er hatte nämlich gerade neben seinem Bett gestanden und sich die Hose angezogen, als sich die Türklinke bewegte. Ins Bett springen und sich schlafend stellen, war eins gewesen. Aber er war überrascht, daß Mummi die Hose nicht entdeckt hatte. Das war in letzter Zeit nun schon das zweite Mal, daß ihre Röntgenaugen sie im Stich ließen. Er fragte sich ernstlich, ob sie wirklich so unfehlbar war, wie sie immer vorgab.
Er hörte Mummi nach unten gehen. Er hörte, wie sie die Wohnzimmertür schloß. Nun, Mummis Mißtrauen würde sie wohl für die nächste Stunde oder so nicht mehr plagen. Vorsichtig kletterte er aus dem Bett, zog sich vollends an und schlich auf Zehenspitzen nach unten.
Was das Schleichen anbetraf, so konnten selbst Indianer noch allerhand von Gaylord lernen. Fünf Minuten später huschte er aus der Hintertür, ohne daß auch nur eine Treppenstufe oder ein Dielenbrett geknarrt hätte. Sogar Mummi mit ihrem eingebauten Frühwarnsystem hatte nichts gehört.
Weiß lag der Weg im Mondlicht vor ihm. Gaylord marschierte los. Unter den Bäumen nahmen die Schatten manchmal bedrohliche Formen an, und er konnte ihnen nicht einmal ausweichen. Es war beängstigend. Die Finsternis konnte einen auf immer und ewig verschlingen, so wie diese komischen Pflanzen, die Fliegen fraßen. Sie konnte ihn mit Würgearmen umschlingen, fester und fester, fester und fester, bis er keine Luft mehr bekam. Sie konnte plötzlich in wilde Schreie und irres
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