Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln schläft
wieder da.
May hatte die Rückkehr von Jenny nicht gerade sehnsüchtig erwartet. Ihr Verhältnis war allzu gespannt. Doch zu ihrer Überraschung warf das Mädchen ihr die Arme um den Hals.
«Tante May, denk dir nur, wir haben gute Nachrichten. Mummi ist wieder bei Bewußtsein. Nach all diesen Wochen. Wir dürfen noch nicht zu ihr, aber sie hoffen, daß wir sie jetzt bald besuchen können.»
«Ach, Liebes, das freut mich aber», sagte May und küßte sie. Sie drückte Jenny an sich. Zuneigung entsprach ihrem Wesen mehr als Abneigung.
«Und außerdem werden David und ich nicht mehr in unsere Schule zurückgehen. Wir gehen für immer nach Indien.»
Gaylord hörte sich das alles mit wachsender Bestürzung an. Niemand erwähnte hier, daß auch Emma nach Indien eingeschifft werden würde. Der Gedanke, daß Emma für immer unter einem englischen Himmel residieren sollte, war zu fürchterlich, um ihn zu ertragen. Dann würde sie in allen Ferien aufkreuzen. Emma zu Weihnachten, Emma zu Ostern, Emma im Sommer, und alle Ferienfreuden zum Teufel...
Da bohrte sich ein dicker Ellbogen in seine Rippen. «Ich komm nicht mehr in den Ferien zu euch», sagte Emma. «Tante Clarissa hat mich eingeladen, ich soll zu denen kommen. »
Gaylord hatte nie sonderliche Sympathien für Tante Clarissa gehabt. Nun schoß sie blitzartig auf Platz 1 seiner Popularitätsliste. Emma sagte spitz: «Da ist es lustig. Wendy und Simon spielen den ganzen Tag mit mir. Nicht wie hier.»
Spitze Bemerkungen vermochten Gaylord jedoch nicht zu treffen. Stöcke und Steine, so pflegte er immer zu sagen, brechen die Gebeine. Aber Worte konnten ihm nichts anhaben. Nun dauerte es ja nicht mehr lange, bis Emma wieder in die Schule ging. Nur noch ein wenig Geduld, und die Zukunft war strahlender als je.
Ja, die Kinder waren wieder da, und damit die alten Sorgen, die sich in Mays Kopf zu dem vertrauten Puzzlespiel zusammenfügten. Nach wie vor schmachtete Jenny Jocelyn an und warf ihm verstohlen vertrauliche Blicke zu, wenn sie glaubte, May würde es nicht sehen. David war noch genauso arrogant und verschlossen. Und genauso unergründlich, dachte sie. Immer noch wanderte er stundenlang allein umher. Der einzige Trost war, daß Emma nicht von Gaylords Seite wich. Da drüben waren sie wieder, tummelten sich im Sonnenschein wie Kleinausgaben von Romeo und Julia. Und dort schlich auch David wieder aus dem Haus zu einem einsamen Spaziergang; mit wirrem Blick lief er den Weg hinunter, als sei der Teufel hinter ihm her, und wer weiß, vielleicht war er es? Und der Mond war nun fast rund.
15
Der volle Mond löst bei den Menschen die verschiedensten Gefühle aus. Er ist in jeder Beziehung ein äußerst merkwürdiges Phänomen. Er ist der kühne Entwurf einer Straßenbeleuchtung, er ist ein freundliches, gutmütiges Gesicht, das auf die Torheiten der Menschen herablächelt. Er ist ein appetitlicher Holländer Käse, er ist ein winziges Sandkorn in der weiten, leeren Wüste des Weltalls; er ist die unerreichbare Schöne, blaß, blond und unbeschreiblich lieblich. Er ist ein noch unbezwungener Mount Everest. Er ist eine böse, lauernde Gegenwart; in seinem vollen Licht zu schlafen, kann Menschen um den Verstand bringen. Er ist ein riesiger Findling, der jeden Augenblick krachend auf die Erde herunterstürzen kann. Er ist ein ganz unbedeutendes Gestirn, das einen kleinen, genauso unbedeutenden Planeten umkreist, und alle seine Bahnen sind berechenbar. Man kann die Uhr nach ihm stellen. Er ist eine dämonische Kraft, die die Meere bewegt und düstere Fluten durch verstörte Menschenhirne treibt.
Und nun war Vollmond...
Nach Sonnenuntergang wurde es dunkel. Doch dann leuchtete der Osthimmel silbrig auf, und der Mond glitt hinter dem Hügel empor -voll, strahlend, mit dem Selbstbewußtsein einer Primadonna. Es war ein perfekter Auftritt - lächelnd, voll Anmut und großartig inszeniert. Aber für die Dame Luna war das ja schließlich nicht die erste Vorstellung, die sie gab.
May aber war von diesem Schauspiel nicht beeindruckt. Sie hatte es beobachtet und ging dann zurück in das hell erleuchtete Wohnzimmer. «Der Mond ist aufgegangen», sagte sie. «Und ich bin so nervös wie eine Amsel mit einem Nest voller Jungen.»
Jocelyn erwiderte liebevoll: «Die Lampen brennen, die Vorhänge sind zugezogen, die Kinder liegen im Bett, was könnte uns Schlimmes geschehen? »
«Ich weiß nicht», sagte sie bedrückt. «Nichts vermutlich.» Sie stand und lauschte. «Was
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