Wenn Zaertlichkeit dein Herz beruehrt
sagte er. Noble grinste, dann wandte er sich wieder seiner Zeitung zu.
»Du hast einen Brief von Camille bekommen.«
»Du bist ein verdammt neugieriger Hurensohn!«
»Ja, und wenn Hässlichkeit reich machen würde, wäre ich Millionär.«
Chris lachte, dann ging er hinüber zu dem runden Eisenofen und machte die Ofentür auf. Nachdenklich blickte er auf den Brief in seiner Hand.
»Willst du ihn nicht lesen?«
Als Antwort warf er den parfümierten Umschlag in das Feuer und beobachtete, wie die Flammen ihn verzehrten. Der Anblick erinnerte ihn daran, dass er wirklich gar nicht erst versuchen sollte, die Frauen zu verstehen oder ihnen gar zu vertrauen. Camille war das beste Beispiel dafür, dass sie etwas sagten und etwas ganz anderes meinten. Die einzige Ausnahme war Victoria - sie hatte ihm klipp und klar gewarnt, dass er sich von ihr fern halten und sie in Ruhe lassen sollte, weil er sie sonst in Gefahr brächte. Na gut, mit Letzterem hat sie wahrscheinlich übertrieben, dachte er. Aber er sollte auf die Stimme der Vernunft hören. Der Himmel wusste, dass er schon genug durchgemacht hatte.
Aber sie hatte ihr Leben für einen Jungen riskiert, den sie überhaupt nicht kannte, sie hatte einmal einen Mann und ein Kind gehabt, und sie zählte die Toten auf, die sie einmal geliebt hatte, als würde sie eine Einkaufsliste herunterlesen. Doch das leichte Zittern in ihrer Stimme hatte ihm verraten, dass sie nicht so hart war, wie sie sich gab. War sie auf der Suche nach den Mördern? Aus welchem Grund griff sie zu so ungewöhnlichen Mitteln? Himmel, die Hälfte der Zeit wusste er nicht, ob er mit einem Mann oder einer Frau redete. Ihre Überlegungen waren so rational, dass man glauben könnte, sie hätte überhaupt keine Gefühle.
Und doch blieb er ihren Argumenten gegenüber weiter misstrauisch. Sean Galloway war ein guter Freund von ihm, ein aufrichtiger Mann, der seine Frau und sein ungeborenes Kind geliebt hatte. Doch Chris erinnerte sich daran, dass er nur eine Woche vor ihrem Tod gesehen hatte, wie sie sich sehr vertraut mit Raif Dunkirk unterhalten hatte, Seans bestem Freund. Aber das allein machte sie noch längst nicht zur Ehebrecherin, und er würde mit einer gewissen Schadenfreude beobachten, wie Victoria versuchte, das zu beweisen. Oder sonst etwas anderes. Er würde keinen Zentimeter nachgeben. Er hatte ohnehin schon viel zu viel gesagt.
Als er sein Büro verließ und sich auf Caesars Rücken schwang, hasste ein Teil von ihm sie dafür, dass sie so fähig und intelligent war.
Victoria ließ sich ihr Gespräch mit Chris immer und immer wieder durch den Kopf gehen und fragte sich, ob sie sich vielleicht überheblich verhalten hatte. Falls ja, dann lag das schlicht und einfach an den 125 Jahren, die sie voneinander trennten. Dennoch wurmte es sie, dass er ihren Standpunkt nicht verstehen wollte, nur weil sie eine Frau war, aber schließlich konnte er auch nicht wissen, dass sie schon seit Jahren Verbrecher jagte.
Sie würde aufhören, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, musste sich auf ihre eigene Jagd konzentrieren, nicht auf seine. Mit diesem Gedanken betrat Victoria gegen zehn Uhr das Pearl, wo die Gäste die Vergnügungen des 19. Jahrhunderts in vollen Zügen genossen. Vels Mädchen flirteten mit den Gästen, Rauch hing schwer in der Luft, der Klavierspieler spielte eine lebhafte Melodie, die Victoria nicht kannte. Sie trat in bester Cowboymanier an die Bar, bestellte ein Bier und hoffte, dass Vel sie. nicht entdeckte. Dann stellte sie sich mit ihrem Bier an das hintere Ende der Theke, lehnte sich lässig gegen die Wand. Von hier aus konnte sie den gesamten Saloon überblicken.
Ins Pearl kamen hauptsächlich Stammgäste, wie sie inzwischen wusste. Ivy League pflegte die Männer immer erst ziemlich spät mit seiner Gegenwart zu beehren. Er zeigte jeden Tag die gleiche Routine. Sonntags blieb der Saloon geschlossen, und dann würde sie herausfinden, was er sonst noch unternahm. Sie hatte Angst davor, dass er einen weiteren Mord begehen konnte, bevor sie eine Gelegenheit fand, ihn zu schnappen.
Ihr Blick schweifte über die angetrunkenen Gäste, bis er an einem auffällig gut aussehenden Mann in Flanellhemd und ausgewaschener Jeans hängen blieb. Er saß in einer Ecke, die Füße auf den Tisch gelegt, und hielt eine halb leere Whiskeyflasche in den Händen. Velvets Bemerkungen kamen ihr in den Sinn. Dies musste Sean Galloway sein. Das lockige, rotbraune Haar fiel ihm in die Stirn, und selbst auf
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