Wer anders liebt (German Edition)
Sejer. »Und hier haben wir klare Regeln. Darüber sollten wir froh sein.«
»Kann schon sein«, sagte Skarre. »Aber ich habe mir noch etwas anderes überlegt, etwas, das wir einsehen müssen. Wenn es um Pädophilie geht, ist es eine Tatsache, dass der Betreffende vielleicht einfach keine Möglichkeit hatte, eine normale Veranlagung zu entwickeln. Er ist selbst das Opfer eines Konfliktes, und wenn er sich an Kindern vergreift, dann, um ein Problem zu lösen. Ich möchte nur an diesen Aspekt erinnern.«
»Probleme haben viele«, sagte Sejer. »Es gibt akzeptable Strategien, sie zu lösen, und es gibt unakzeptable. Es gibt viele Pädophile, die ihre Veranlagung nicht ausleben, es geht darum, Grenzen zu beachten. Unser Mann hat das nicht getan.«
»Trotzdem«, sagte Skarre. »Die Möglichkeit, dass er selbst einem Übergriff ausgesetzt gewesen ist, ist groß. Bis zu siebzig Prozent. Er hätte vielleicht lieber behandelt statt verdammt werden sollen. Ein gewiefter Anwalt wird diese Dinge nach besten Kräften nutzen.«
»Er hat wohl kaum um Behandlung gebeten«, sagte Sejer, »das wäre vielleicht auch in seiner Verantwortung gewesen. Viele Menschen hatten eine elende Kindheit, das erlaubt ihnen aber nicht, sich an anderen zu vergreifen. Vielleicht sollten gerade sie es besser wissen. Oder?«
»Wie leicht ist es, zu einem Therapeuten zu gehen und zu sagen, hilf mir, ich fahre auf kleine Kinder ab?«
»Nein, leicht ist das sicher nicht. Aber das Leben ist für niemanden leicht.«
»Ich kann bei dir nicht auf Verständnis hoffen?«
»Nein.«
»Ich meine nur, dass es verdammt schwer sein muss«, sagte Skarre. »Was ist eigentlich ein Zwang? Ist eine List auch schon ein Übergriff? Ist es verwerflich, jemanden ins Bett zu locken? Können wir uns überhaupt gegenseitig verführen? Es ist nicht leicht, ein Mann zu sein und alle diese Regeln zu verstehen.«
Sejer sah Skarre über den Tisch hinweg an. »Ich rede nur ungern über meine eigenen Eskapaden«, sagte er, »aber mir ist es nie schwer gefallen, mich an die Regeln zu halten.«
»Das glaube ich gern, ich kenne dich ja. Aber stell dir vor, du bist ein Junge in einem halbdunklen, glühendheißen Lokal, umgeben von schönen Mädchen, die sich in jeder Hinsicht anbieten. Du bist voll von Bier und Hormonen, und dein Puls hämmert im Takt der Bässe in der Stereoanlage. Schlimmstenfalls hast du Ecstasy genommen.«
»Auf die Idee würde ich nie im Leben kommen.«
»Vermutlich nicht. Aber das ist die Wirklichkeit, in der wir heute leben, und ich behaupte, dass wir in Bezug auf die Sexualität hinterherhinken. Wir wollen frei sein, aber das sieht nur so aus, denn in der Forschung ist ungeheuer wenig passiert. Ich habe mich letzte Nacht zum Lesen hingesetzt, ich wollte wissen, warum jemand pädophil wird. Ich habe keine gute Antwort gefunden, denn man weiß fast nichts darüber. Angeblich sind es individuelle Ursachen. Aber vielleicht ist es so, dass niemand das so genau wissen will. Niemand will sich diese Männer vornehmen, ganz zu schweigen davon, laut über sie zu reden, und übrig bleibt nur kollektive Verachtung.«
»Na«, sagte Sejer, »irgendwelche Informationen hast du offenbar doch gefunden, du platzt ja schon fast.«
»Ja«, antwortete Skarre. »Und ich staune darüber, was alles im Rahmen des Normalen bleibt. Ich meine, so lange beide Seiten erwachsen und einig sind. Gleichzeitig laufen viele Menschen mit ausgefallenen sexuellen Phantasien durch die Gegend, die sie niemals in die Tat umsetzen. Vermutlich können wir darüber nur froh sein. Und ich habe viel über das nachgedacht, was Åkeson gesagt hat. Dass wir es vielleicht mit einem Mann zu tun haben, der sich zum ersten Mal an einem Kind vergriffen hat.«
»Das kann schon sein«, sagte Sejer. »Und dann ist die Frage, ob er sich jetzt voller Angst versteckt, oder ob er Blut geleckt hat.«
Nach einer kurzen Pause fiel Skarre etwas anderes ein.
»Was ist mit deinem Enkel«, fragte er. »Matteus. Ist der schon sechzehn?«
»Siebzehn. Warum fragst du?«
»Er geht ins Ballett?«
»Ja. Er macht klassisches Ballett und es gibt Leute, die ihn als Talent bezeichnen.«
»Hat er eine Freundin?«
Sejer sah ihn an.
»Da läuft wohl was mit einer gewissen Lea. Ich weiß nicht sehr viel darüber, und ich will ihn nicht ausfragen.«
»Ist diese Lea schon sechzehn?«
Sejer runzelte die Stirn. »Das weiß ich nicht. Mach mir nicht mehr Sorgen, als ich ohnehin schon habe. Matteus ist ein sehr vernünftiger
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