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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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die Straßen fahren, denn seine Schränke waren leer. Er hatte in den letzten Tagen gehungert, hatte fast schon von sich selbst gezehrt. Das Tageslicht jagte ihm eine Todesangst ein, aber er zwang sich aus dem Haus, ich lebe doch, dachte er, und noch bin ich frei. In der letzten Sekunde griff er nach einer alten Schirmmütze, zog den Schirm tief in die Stirn und ging zum Spiegel. Er fand diese Verkleidung gut. Es waren nur einige Schritte zum Auto. Da kam die alte Mutter des Bauern über den Hofplatz, das Kinn hervorgeschoben, der Rücken krumm. Sie hatte einst den Hof geführt, zu einer Zeit, als es hier auch Kühe gegeben hatte, jetzt blieben ihr nur die Hühner und einige schwarze und weiße Kaninchen in einem Pferch hinter der Scheune.
    Sie sah ihn und winkte, aber er riss die Autotür auf und sprang hinein, er wollte nicht reden, mit niemandem. Nun kam sie in einem ziemlichen Tempo angewackelt, sie hatte offenbar etwas auf dem Herzen, und seine Angst, zu verzweifelt zu wirken, ließ ihn warten. Sie beugte sich zum Auto vor und schaute mit glänzenden Augen zu ihm herein. Widerwillig öffnete er das Fenster.
    »Sieh an, der Nachbar, du willst weg?«
    Er nickte. Wenn Weibsbilder erst alt genug sind, entwickeln sie einen sechsten Sinn, dachte er.
    »Muss einkaufen«, sagte er und rang sich ein müdes Lächeln ab. Er hatte nichts gegen sie, eher mochte er diese alte graue Scharteke. Er konnte sich den Hof nicht ohne sie vorstellen, und er sah gern zu, wie sie mit im Rücken verschränkten Händen umhertrottete.
    »Ja, ja. Wir alle müssen essen«, sagte sie.
    Ihre Kittelschürze war verschossen und verwaschen, einige Knöpfe fehlten, wie er sah, darunter ahnte er einen altmodischen rosa Unterrock mit einer schmalen Spitzenkante. Ihre Haare waren trocken und weiß, sie lugten unter einem blauen Kopftuch hervor.
    »Hast du die vielen Autos gesehen?«, fragte sie. »Mit Fotografen und Zeitungsleuten? Die wollen über den Jungen reden. Den, der oben bei Linde im Wald gefunden worden ist.«
    »Ja«, würgte er heraus, »die habe ich gesehen.«
    »Armer kleiner Wicht.«
    »Ja«, sagte er. »Das war schlimm.«
    »Streifenwagen auch«, fügte sie hinzu. »Von denen wimmelt es. Und es ist fünfzig Jahre her.«
    »Was denn?«, fragte er.
    »Dass hier in Huseby jemand umgebracht worden ist.«
    Er sah sie verwirrt an.
    »Das hast du nicht gewusst, wie ich sehe?«
    »Nein«, sagte er.
    Sie brüstete sich ein wenig, weil sie etwas zu erzählen hatte.
    »Der älteste Sohn auf Fagre Øst hat seine Freundin umgebracht. Sie war erst fünfzehn. Und sie erwartete ein Kind, so sind die jungen Leute doch, können sich gegenseitig nicht in Ruhe lassen, und dann kommt es, wie es kommen muss. Er wurde ins Erziehungsheim gesteckt und blieb dort viele Jahre lang. Jetzt ist er Frührentner. Ist natürlich weggezogen, in eine andere Gegend. Und bläst sicher Trübsal, weil das alles passiert ist.«
    Er lauschte ihrem Wortschwall. Er fragte sich, ob sie etwas von ihm wollte oder ob ihr nur ein Zuhörer gefehlt hatte.
    »Sich an ein kleines Kind heranzumachen, ist einfach unverzeihlich, so sehe ich das jedenfalls.«
    Er nickte. Sie sah ihn jetzt nicht mehr an, sie redete in die Luft hinein und hielt die Autotür fest, wie um ihn festzuhalten, wie um das loswerden zu können, was sie auf dem Herzen hatte.
    »Also«, sagte sie dann. »Ich hätte eine Frage. Nur eine kleine. Wenn es nicht zu große Mühe macht. Ich will ja nicht zuviel verlangen.«
    Sie musterte ihn mit blassblauen Augen.
    »Aber wer nicht fragt, bekommt gar nichts, das ist doch eine goldene Regel.«
    Er wartete geduldig. Er musste ihr einfach Zeit lassen. Alte Leute, dachte er, die halten uns fest in ihrer Langsamkeit, es ist, wie in Tang festzuhängen. Er schaute in das trockene Gesicht, ihre Haut hing lose um ihren Hals und an ihrem Kinn zitterten einige Barthaare. Sie ist nicht mehr weiblich, dachte er, sie macht nichts mehr her. Sie ist allein auf dem Außenposten des Lebens und sie wartet. Er fragte sich, was es für ein Gefühl sein mochte, sich abends schlafen zu legen, wenn man sechsundachtzig war. Das Gefühl, wenn die Dunkelheit in den Ecken hervorkroch, dass es vielleicht die letzte Dunkelheit war.
    »Du weißt schon, die Jungs«, sagte sie und nickte zur Scheune hinüber.
    »Die Jungs«, wiederholte sie, »die langweilen sich abends so sehr, sie haben Heimweh nach Weib und Kind. Ich weiß einfach nicht, was ich für sie tun soll.«
    Sie meinte die Polen. Sie machte eine

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