Wer bin ich ohne dich
wunderbar im Griff haben.
Eine Mutter mit zwei halbwüchsigen und zwei bereits erwachsenen Kindern ist nach längerer Auszeit wieder berufstätig. Die Arbeit macht ihr Freude, sie merkt aber, dass sie verlernt hat, sich in der Berufswelt zu positionieren. Ihr fehlt die Kampfbereitschaft, sie spürt, dass sie den Kollegen gegenüber ins Hintertreffen gerät. Sie will nicht ihre Ellenbogen einsetzen, das liegt ihr nicht. Aber gleichzeitig fragt sie sich, ob sie ihren Kindern ein gutes Vorbild ist. Müsste sie sich nicht mehr durchsetzen, sich kämpferischer zeigen? Sollte sie sich weniger zurückziehen und sich gegen Widerstände besser behaupten? Sie sorgt sich dabei weniger um sich als um ihre Kinder. Die sind nun in dem Alter, in dem sie ins Berufsleben starten. Wie soll ihnen das gelingen, wenn ihre Mutter ihnen kein gutes Vorbild ist, wie sie meint. Kann sie ihnen den nötigen | 94 | Biss mitgeben? Der Vater, der vor Jahren die Familie verlassen hat, könnte das. Allein fühlt sie sich dieser Herausforderung nicht gewachsen, glaubt aber, sie bewältigen zu müssen.
Mutterschaft ist heute von Beginn an mit hohen Erwartungen belegt – und diese Erwartungen hat es zu früheren Zeit so noch nicht gegeben. Wie die französische Philosophin Elisabeth Badinter feststellt, brauchen Frauen heute mehr Zeit und Energie, um zwei Kinder großzuziehen, als vor 50 Jahren Mütter für sechs Kinder benötigten. »Es beginnt gleich nach der Geburt mit einem enormen Aufwand. Neuerdings muss eine gute Mutter jederzeit zum Stillen bereit sein, wann immer das Kind danach verlangt. Das heißt, sie steht dem Baby von Anfang an Tag und Nacht zur Verfügung, und das Kind bekommt seinen Platz im elterlichen Ehebett zwischen den Erwachsenen.«
Mütter wollen keine Erziehungsfehler machen, sie wollen ihre Kinder nach Kräften fördern. Nur noch selten wird der Nachwuchs nach draußen zum Spielen geschickt oder mit den Geschwistern und Nachbarskindern für Stunden sich selbst überlassen. Heute wird von einer Mutter erwartet, dass sie den Lernerfolg ihres Kindes überwacht und durch tatkräftigen Einsatz fördert und ihm als »Taxifahrerin« zur Verfügung steht. Denn wie soll das Kind sonst zu seinen diversen Terminen (Fußballtraining, Musikstunde, Nachhilfeunterricht, Fechten …) kommen?
Mutterschaft ist zu einem Beruf geworden, der viel Wissen und Expertentum verlangt, aber wenig Anerkennung bringt. Was Mütter tun, wird als selbstverständlich betrachtet. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Frauen diesen Beruf meist zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit ausüben – was zu innerer Zerrissenheit und einem permanent schlechten Gewissen führt. Viele berufstätige Mütter stehen ständig unter Strom und Zeitnot und glauben, weder ihrem Kind noch ihrem Beruf wirklich ge | 95 | recht werden zu können. Das, was sie tun und was sie zustande bringen, ist weit entfernt von ihrem Idealbild. So sehr sie sich auch anstrengen, sie müssen immer wieder realisieren, dass sie ihren eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht werden können. Auf lange Sicht haben die mit dieser Erkenntnis verbundenen Schuldgefühle Folgen: Wer sich ständig schuldig und ungenügend fühlt, verliert irgendwann das Gefühl für den eigenen Wert.
Mutterschaft, so die Ideologie, soll Frauen Erfüllung und Freude bringen. Die Realität sieht jedoch in den meisten Fällen anders aus. Viele Mütter balancieren am Rande des Nervenzusammenbruchs, fühlen sich inkompetent und überfordert. Sie glauben, dass andere Mütter besser sind, dass es ihnen leichter fällt, die Herausforderungen der Mutterschaft zu erfüllen. In der Regel sprechen sie nicht über ihre Gefühle der Unzulänglichkeit und über ihr Unglück. Sie verbergen ihre Verzweiflung vor anderen – und ertragen ihre Last schweigend. Doch die Überzeugung, eine schlechte Mutter zu sein, lässt sie nicht mehr los und kann in die Depression führen.
Stressfaktor: Alleinerziehend sein
Privilegierte Frauen, die von ihren Partnern, Eltern oder Schwiegereltern unterstützt werden oder sich Unterstützung durch Tagesmütter oder eine Kinderfrau leisten können, mögen ihrem Mutterideal noch am nächsten kommen. Aber nicht jede Frau kann die Last der Mutterschaft auf mehrere Schultern verteilen. In besonderem Maße von der Mutterideologie betroffen sind alleinerziehende Mütter. Sie müssen nicht nur den schwierigen Spagat zwischen Kind und Beruf meist alleine bewältigen, sie haben zudem oft finanzielle
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