Wer bin ich ohne dich
Schwierigkeiten, fühlen sich gesellschaftlich an den Rand gedrängt, haben nur eingeschränkte be | 96 | rufliche Möglichkeiten. Nicht selten müssen sie mit dem Vater ihrer Kinder um den Unterhalt streiten.
Armut ist ein weiterer großer Risikofaktor für weibliche Depression. In Deutschland waren im Jahr 2009 12,6 Millionen Menschen von Armut bedroht. Neben Arbeitslosen gehörten vor allem Alleinerziehende zu dieser Gruppe, deren Mitglieder vor allem weiblich waren. Es ist nicht nur die finanzielle Not, die Alleinerziehenden zusetzt – Frauen, die in ungesicherten Verhältnissen leben, leiden unter Kontrollverlust, sie können die Situation nicht beeinflussen, sie haben chronische Belastungen wie unsichere Wohnverhältnisse, die alleinige Verantwortung für die Kinder, unsichere Arbeitsplätze und so weiter. Auch das soziale Netzwerk lässt diese Frauen oft im Stich.
In einer Untersuchung, der Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie, wurden über 500 alleinerziehende Mütter und ihre Kinder befragt. Diese Mütter hatten im Vergleich zu Müttern aus intakten Familien deutlich weniger Einkommen zur Verfügung, und sie litten häufiger unter Depressionen. Besonders belastet waren jene Mütter, die ihr Kind ohne die Unterstützung eines anderen Familienmitglieds oder einer Tagesmutter großzogen.
Stressfaktor: Beziehungsarbeit
Frauen fühlen sich für das Klima in Partnerschaft und Familie zuständig. Sie haben zudem sehr viel längere soziale Antennen als Männer. Das führt dazu, dass sie schneller und häufiger wahrnehmen, wenn andere Probleme haben. Sie erkennen es nicht nur, sondern machen sich auch Gedanken darüber, welche Lösungen es für diese Probleme geben könnte. Frauen bieten anderen nicht nur häufiger Fürsorge und emotionale Unterstützung an als Männer dies tun. Sie werden auch von ihren Männern, ih | 97 | ren Kindern, anderen Familienmitgliedern oder Freunden unverhältnismäßig häufig als Ratgeber und Kumpel, als Vertrauensperson und als Quelle der Bestätigung genannt. Selbst wenn die Kinder bereits erwachsenen sind, bleiben die Mütter Anlaufstation für Probleme. Diese Tatsache wird von vielen Depressionsexperten als bedenkliche weibliche Persönlichkeitseigenschaft bewertet, in der sie einen Grund für die hohen Depressionsraten bei Frauen sehen (siehe Kapitel »Wege in die Depression – Die üblichen Verdächtigen«). Doch diese Hinwendung zu anderen, dieser Einsatz für andere Menschen ist nicht an sich depressionsfördernd. Die Problematik entsteht vielmehr durch ein Ungleichgewicht, das Frauen in ihrem Alltag häufig erleben: Sie geben, andere nehmen. Umgekehrt finden Frauen selten die starke Schulter oder das offene Ohr, das sie bräuchten, um für ihre Sorgen und Probleme Entlastung zu finden.
Der Psychologe David Almeida stellt in einer Stressstudie fest: »Im Beruf erleben Männer und Frauen zwar vergleichbaren Stress, doch Männer fühlen sich sehr viel weniger belastet von Problemen ihrer Freunde oder Verwandte. Die Frauenrolle hat sich verändert, die Rolle der Männer nicht.« Ob es darum geht, die Kinder bei den Hausaufgaben zu betreuen, nahe Verwandte zu unterstützen oder eine Freundin mit Eheproblemen zu trösten – es sind Frauen, die anderen zur Seite stehen und sich zusätzlich zu ihrem eigenen Stress noch die Schwierigkeiten anderer auf ihre Schultern laden. »Männer tun das nicht«, so das klare Fazit von Almeida. Die Schilderung einer 49-jährigen Frau zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen die Bedürfnisse anderer in die erste Reihe stellen und sich selbst zurücknehmen:
Meine 86-jährige Mutter wohnt bei uns im Haus. Ich habe, um sie besser versorgen zu können, meine Berufstätigkeit reduziert und arbeite nur noch 70 Prozent. Zurzeit überlege ich, ob ich nicht noch weiter reduzie | 98 | ren soll, denn meine drei Töchter, die eine ist 11, die andere 15, die älteste 18, brauchen mich sehr. Ob es um Schulprobleme, ersten Liebeskummer oder Schwierigkeiten mit den Freundinnen geht, ich bin ihre erste Anlaufstelle. Sie brauchen meinen Trost und meinen Rat. Ich gebe ihnen das ja gerne, wirklich, aber ich bin auch gerne berufstätig. Ich glaube, ich brauche meinen Job als Ausgleich. Aber mir fehlt dadurch einfach Zeit. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht angemessen um meine Mädels und auch um meine Mutter kümmere. Von meinem Mann ganz zu schweigen. Der kommt eindeutig zu kurz.
Sich um andere kümmern, das ist für Frauen
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