Wer bin ich ohne dich
Stimmungsschwankungen und führt diese auf die hormonellen Veränderungen im Laufe eines Monatszyklus zurück. In ihren depressiven Phasen wäre sie so anklammernd, so nörgelig, so bedürftig. Und das ist doch, wie sie sagt, »blöd«. »Man darf doch nicht klammern«, meint sie und sieht dabei ganz verloren aus.
Die Ehefrau ist überzeugt davon: »Ich darf doch nicht so viel Nähe wollen, ich darf doch nicht so bedürftig sein.« Sie kämpft gegen ihr Bedürfnis nach Nähe an, weil sie glaubt, es sei nicht passend. Eine emanzipierte Frau darf solche Bedürfnisse nicht haben. Diese Frau glaubt, dass mit ihr etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist. Sie sucht die Verantwortung für die Ehekrise bereitwillig bei sich selbst. Ihren coolen, allzeit ruhigen und besonnenen Ehemann bewundert sie. Dass ihr Wunsch nach mehr Nähe von ihm nicht erfüllt wird, hält sie für normal.
In unserer Gesellschaft gelten Selbstverwirklichung und Autonomie als wichtige, wenn nicht als die wichtigsten Entwicklungsziele. Ein seelisch stabiler und gesunder Mensch ist ein autonomer Mensch. Unabhängig von anderen sein Leben bewältigen zu können, das macht einen reifen, erwachsenen Menschen aus. Bedürfnisse nach Nähe werden da schnell als ungesunde Abhängigkeit gewertet. Frauen wissen das. Sie leben schließlich in dieser Gesellschaft, und sie leben in Beziehungen, die durch das Autonomiegebot geprägt sind. Und konsequenterweise sind auch sie | 135 | überzeugt davon, dass es besser ist, wenn man nicht zu viel Nähe, zu viel Bindung braucht. Aus diesem Grund setzen sie viel Energie ein, um ebenfalls autonom und unabhängig zu sein – und versuchen ihre wirklichen Bedürfnisse zu ignorieren oder zu unterdrücken. Ein Versuch, der auf Dauer seinen Preis fordert.
Der Fall einer 42-jährigen Juristin illustriert diesen emotionalen Zwiespalt von Frauen sehr gut: In den vergangenen 10 Jahren hat sie ihren Mann tatkräftig bei seiner Karriere unterstützt. Klaglos hat sie hingenommen, dass er an Wochenenden und in den Ferien Zeit für seine Dissertation brauchte. Selbstverständlich hatte sie immer ein offenes Ohr, wenn er über Probleme am Arbeitsplatz berichtete. Dass er kaum Zeit für sie und die vier Kinder erübrigen konnte, nahm sie hin. Sie freute sich sogar, wenn er anderen gegenüber anerkennend meinte, dass sie die Familienmanagerin sei und ihn gar nicht brauche. Doch als dann die Dissertation abgeschlossen und die berufliche Situation des Mannes gefestigt war, erkrankte sie an Depression. Jahrelang hatte sie den Mangel an Nähe und Zuwendung ausgehalten, doch jetzt konnte sie nicht mehr. Sie fühlte sich unendlich alleine – und gleichzeitig verurteilte sie sich für ihre Ansprüche an den Partner. Die Schuld für ihre seelische Erkrankung suchte sie bei sich.
Unbestritten kann zu große Abhängigkeit der Entwicklung eines gesunden Selbst im Wege stehen. Und ganz sicher gibt es Menschen, die aufgrund ihrer frühen negativen Kindheitserfahrungen unter großer Verlustangst leiden und deshalb eine abhängige Persönlichkeitsstruktur entwickelt haben. Doch es drängen sich Fragen auf:
Ist es zulässig, die Bedeutung, die Frauen ihren Beziehungen zuschreiben, unter den Pauschalverdacht der Abhängigkeit zu stellen? | 136 |
Ist es zulässig, ein Defizit an Autonomie und Unabhängigkeit zu diagnostizieren, wenn Frauen in ihren Beziehungen zu wichtigen Menschen unglücklich sind?
Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man Frauen unterstellt, ihre Erwartungen an Beziehungen seien zu hoch und deshalb würden sie zwangsläufig enttäuscht? | 137 |
»Wenn du nur anders wärst!«
Wie Mädchen abhängig und Jungen autonom werden
Aufgrund der Erfahrungen, die depressive Frauen in Beziehungen häufig machen müssen, liegen zwei Schlussfolgerungen nahe.
Eine könnte lauten: Die Frauen müssen sich ändern . Sie sollten ihre Orientierung auf Beziehungen, ihr Bedürfnis nach engen Bindungen verringern, ihre Erwartungen herunterschrauben und ihre Selbstständigkeit, ihre Unabhängigkeit von anderen stärken. Eine andere Schlussfolgerung könnte sein: Die Männer müssen sich ändern . Wären sie bessere Zuhörer, wären sie einfühlsamer und bindungsfähiger, könnten sie ihren Frauen die Lebensgefährten sein, die diese sich wünschen. Dann hätten Frauen befriedigendere Beziehungen, in denen ihre Bedürfnisse gesehen und beantwortet werden und würden möglicherweise seltener an Depression erkranken.
Beide
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