Wer bin ich ohne dich
in Ordnung ist – im Gegenteil: Häufig wird diesen Frauen ihr Verhalten als »Abhängigkeit« und »Unselbstständigkeit« ausgelegt, was bei den Frauen den Verdacht schürt, dass sie selbst schuld sind an ihrer Lage. Wären sie nicht so bedürftig, wären sie nicht so anklammernd und hilflos, dann ginge es ihnen psychisch besser. Eine depressiv erkrankte Frau muss sich fragen, ob ihre »soziale Ader« möglicherweise ein Makel ist, der ihre Entwicklung zur Eigenständigkeit behindert. Sie hat das Gefühl, dass sie etwas falsch macht, ja, dass sie falsch ist. Wäre sie härter, egoistischer, durchsetzungsfähiger oder gleichgültiger anderen gegenüber, dann wäre sie nicht krank.
Eine junge Frau, 29 Jahre alt, ist nach dem Scheitern einer dritten Beziehung verzweifelt. Sie quält sich mit Fragen wie »Was mache ich falsch?«, »Was ist an mir, dass niemand bei mir bleiben mag?« Sie ist sicher, dass es an ihr liegt, wenn Partnerschaften scheitern. Hat sie zu sehr geklammert, war sie zu fordernd, ist sie nicht genug auf den anderen eingegangen? Den Part der jeweils anderen Seite, das Verhalten der drei Männer, nimmt sie erst gar nicht ins Visier. Erst nach mehreren Therapiegesprächen stellt sie die Gemeinsamkeit ihrer drei ehemaligen Partner fest: Alle drei waren nach wie vor an ihre Exfreundinnen gebunden, sie hatten die vorherige Beziehung noch nicht verarbeitet und sich noch nicht emotional gelöst.
Frauen lassen sich oft zu bereitwillig das Etikett »abhängig und bedürftig« anhängen. Der Grund: Sie wissen zu wenig über sich selbst. Wichtige Befunde aus der Entwicklungspsychologie zeigen, dass es bereits im Kindesalter deutliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt, dass es also nicht an einem see | 141 | lischen Defizit der Frauen liegen kann, wenn Beziehungen für sie so eine große Rolle spielen.
Schon im Kindergartenalter reagieren Mädchen auf Fotos oder Erzählungen mit negativem Inhalt einfühlsamer als Jungen.
Mädchen teilen bereitwilliger mit anderen als Jungen.
Mädchen im Grundschulalter kümmern sich mehr um kranke Kinder als Jungen.
Mädchen spielen bereits im Kindergartenalter intimere Spiele, während Jungs Konkurrenzspiele bevorzugen.
Jungen neigen dazu, andere zu unterbrechen. Sie achten weniger als Mädchen auf das, was andere wollen. Um ihre Interessen durchzusetzen, bedrohen sie andere. Mädchengruppen dagegen versuchen Konsens herzustellen und achten darauf, dass jedes Mitglied einer Gruppe zu seinem Recht kommt.
Mädchen sprechen mehr miteinander über ihre Gefühle, tauschen »Geheimnisse« aus.
Mädchen im Alter von 11 Jahren zeigen mehr Einfühlungsfähigkeit als Jungen. Und sie denken mehr über sich und andere Menschen nach.
Mädchen sind mehr als Jungs daran interessiert, stabile Freundschaften aufzubauen und zu erhalten.
Im Alter zwischen drei und fünf Jahren lernen Kinder, dass sie die Möglichkeit besitzen, andere Menschen zu beeinflussen. Mädchen gehen mit dieser Erkenntnis deutlich anders um als Jungen: Mädchen machen Vorschläge, während Jungen direkte Anweisungen geben. Das heißt, Jungs fangen schon früh damit an, Strategien zu entwickeln, in Beziehungen der dominantere Part zu sein und sich vor Beeinflussung anderer zu schützen. Kommen die Geschlechter dann in der Pubertät in gemischten | 142 | Gruppen zusammen, sind die Jungs in der Lage, Einfluss zurückzuweisen und treffen auf Mädchen, die gelernt haben, Rücksicht zu nehmen und auf Gegenseitigkeit Wert zu legen.
Anders als Jungs, die sich meist nur auf ihre eigenen Interessen konzentrieren und sich kaum »in die Schuhe anderer stellen«, machen Mädchen sich Gedanken, wie ihre Gefühle und ihre Wünsche auf andere wirken. Sie haben »Beziehungsachtsamkeit«. Die Psychologieprofessorin Carol Gilligan und ihre Kollegin Lyn Brown haben in einer Langzeitstudie über das Erleben pubertierender Mädchen auch das Mädchen Jennifer interviewt, deren Konflikt sehr gut illustriert, wie Mädchen »Beziehungsachtsamkeit« leben: »Jennifer erzählt, wie sie reagiert hat, als ein nicht so beliebtes Mädchen sie im Ferienlager vor Zeugen fragte, ob sie denn ihre Freundin sei. Jennifer hatte schon eine Freundin, die sie nicht verärgern wollte, gleichzeitig aber wollte sie auch das fragende Mädchen nicht bloßstellen. ›Ich war nicht sicher, ob ich sagen sollte, dass sie meine Freundin wäre, weil sich dann meine beste Freundin aufgeregt hätte, und dann war ich auch nicht sicher, ob ich sagen sollte, ich
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