Wer bin ich ohne dich
Diese Frauen sagten, dass sie die Haushaltspflichten gleichmäßig aufteilten und sich ganz bewusst darin unterstützten, unabhängig voneinander Zeit zu verbringen und Zeit für sich selbst zu haben. »Sie respektiert meine Freizeit«, berichtete beispielsweise eine der lesbischen Frauen. »Wenn ich etwas anderes tue, scheint das nie ein Problem zu sein. Ich finde, sie ermutigt mich sogar, Dinge zu tun, die mich wirklich interessieren.« Eine andere Frau meinte: »Bedenkt man den Stress und die Hektik, die wir haben, machen wir einen wirklich guten Job. Wir helfen einander, damit jede von uns Pausen machen und ihren Interessen nachgehen kann. Zeit für sich zu haben und für den Sport, das scheint mir eine wichtige Sache zu sein.« Und auch diese dritte Stimme bestätigt, dass lesbische Frauen sehr achtsam miteinander umgehen und darauf achten, dass die Beziehung und die damit verbundenen Aufgaben nicht alles dominiert: »Sie gibt mir viel Freiheit für meine eigenen Interessen. Sie ist sehr respektvoll – es gibt immer Raum dafür.«
Die Autorinnen der Studie waren erstaunt, wie sehr die lesbischen Frauen den Freiraum der jeweils anderen respektieren. »Vergangene Forschungsarbeiten haben immer wieder gezeigt«, so die Wissenschaftlerinnen, »dass Frauen ein großes, ungestill | 170 | tes Bedürfnis nach eigener, freier Zeit haben. Selten konnte bestätigt werden, dass Frauen darin Unterstützung vom Partner oder der Familie erhalten.«
Auch eine weitere Studie, über die die Psychologin Michelle N. Lafrance berichtet, verweist auf eine weitere besondere Qualität von lesbischen Beziehungen, die das Depressionsrisiko von Frauen vermindern könnte: das Verständnis füreinander. In dieser Untersuchung wurden 60 heterosexuelle und lesbische Frauen über prämenstruelle Beschwerden und die Reaktionen des Partners beziehungsweise der Partnerin darauf befragt. Alle Frauen erlebten die Zeit vor ihrer Periode ähnlich belastend: Sie berichteten von Stimmungsschwankungen bis hin zur Depression, Hass auf den eigenen Körper und Sinnlosigkeitsgefühlen. In den Symptomen gab es keine Unterschiede. Sehr wohl aber in den Reaktionen der Lebenspartner oder -partnerinnen. Männer neigten dazu, ihre Frauen in den Tagen vor den Tagen zu kritisieren, wiesen sie in ihrem Bedürfnis nach mehr Nähe zurück oder pathologisierten ihr Verhalten (»Du tickst ja nicht richtig«). Lesbische Partnerinnen waren verständnisvoller, unterstützender, und sie hielten die prämenstruellen Symptome für völlig normal. Dieses Ergebnis ist nicht sehr verwunderlich, denn eine Frau weiß sehr genau, was in einer anderen vor sich geht, die unter dem prämenstruellen Syndrom leidet. Dieses Einfühlungsvermögen vermissen Frauen in heterosexuellen Partnerschaften – und leiden möglicherweise deshalb stärker unter den Symptomen.
Manche Wissenschaftlerinnen sehen in der großen emotionalen Nähe zwischen zwei Frauen jedoch nicht nur einen Vorteil, sondern auch eine Gefahr. Sie warnen davor, dass lesbische Paare zur Verschmelzung neigen und Autonomie und Unabhängigkeit zu kurz kommen. Weil die psychische Abgrenzung zwischen zwei Frauen sehr viel weniger stark ausgeprägt ist als zwischen Mann und Frau, wo »die Frau meistens die beziehungsrelevanten | 171 | Fähigkeiten einbringt und der Mann für die Abgrenzung beziehungsweise das Getrenntsein sorgt«, wie Kristine Falco schreibt, »wird angenommen, dass Verschmelzung leichter in lesbischen Beziehungen entstehen kann«. Die Gefahr besteht, dass miteinander verschmolzene lesbische Paare sich in ihrer Beziehung gefangen und eingeengt fühlen, dass Konflikte nicht sein dürfen, dass eine gesündere Differenzierung, wie sie von dem Paartherapeuten David Schnarch für alle Beziehungen als wichtig beschrieben wird, nicht gegeben ist. Schnarch spricht von gelungener Differenzierung, wenn ein Paar trotz aller Gemeinsamkeit und Nähe den jeweils eigenen Weg nicht aufgibt. Differenzierung ermöglicht es einem Menschen, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn er sich emotional und körperlich einem anderen sehr nahe fühlt. Gelingt die Differenzierung, also die Balance zwischen Nähe und Unabhängigkeit in einer Beziehung nicht, kommt es, so David Schnarch, zur »emotionalen Verschmelzung«. Die Individualität und Eigenständigkeit der Partner oder Partnerinnen geht dann verloren, das eigene Selbst ist abhängig von den Handlungen des oder der anderen.
Die Gefahr von zu großer Verschmelzung
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