Wer bin ich ohne dich
es kann die junge Mutter nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Anders als zu Beginn der Geschichte, als die Müllerstochter noch angepasst und willig versucht, Unmögliches möglich zu machen, wehrt sie sich als Königin nun gegen die unmenschlichen Ansprüche. Sie krempelt sozusagen innerlich die Ärmel hoch und bietet dem Männchen die Stirn. Als sie Stroh zu Gold spinnen sollte, fand sie diese Kraft noch nicht, nun aber, da es um mehr geht als um Gehorsam, Fleiß und Anpassung und sie verzweifelt erkennt, dass ihr Wertvollstes in Gefahr ist, wird sie aktiv. Sie besiegt ihre Angst und Verzweiflung und stellt sich mutig der Situation. Wie sie das tut, welche Strategien sie einsetzt, das ist beispielhaft auch für reale Frauen, die aufgrund ihrer Lebensumstände depressiv geworden sind oder glauben, depressionsgefährdet zu sein.
Es gibt eindrucksvolle Parallelen zwischen dem Märchen und der Realität, wenn es um die Frage geht »Wie werden Frauen depressiv?«. Ebenso lassen sich Parallelen finden, wenn eine Antwort gesucht wird auf die Frage »Wie können Frauen die Depression überwinden?« Denn die Wege ähneln sich, die im Märchen wie im wirklichen Leben aus der Depression herausführen.
1. Strategie:
»Nun dachte die Königin an alle Namen, die sie je gehört hatte …« – Den Sinn der Depression erkennen
Das Männchen gibt sich kulant. Großzügig räumt es der Königin eine Gnadenfrist ein: Wenn es der Königin gelingt, in drei Tagen | 175 | seinen Namen zu erraten, will es auf sein Pfand, das Kind, verzichten. Und die Königin grübelt, denkt nach, welche Namen sie kennt. Sie bemüht sich, die Aufgabe zu lösen.
Auch depressiv erkrankte Frauen haben eine Aufgabe zu lösen: Für sie geht es darum, einen Namen zu finden für die Situation, in die sie geraten sind. Und sie müssen herausbekommen, welcher Sinn, welche Botschaft für sie in dieser Situation enthalten ist.
Ähnlich wie die Königin verfallen auch reale Frauen zunächst in verzweifelte Grübeleien, ziehen sich zurück, scheinen handlungsunfähig, wenn sie einsehen müssen, dass sie mit ihrer Kraft und ihrer Weisheit am Ende sind. Häufig sind sie, nach dem ersten Erschrecken und der Abwehr, erleichtert, wenn sie von einem Arzt oder einer Therapeutin den Namen ihres Zustands erfahren: Depression. Einen Namen zu haben ist besser als dieses Nichtwissen. Aber die Erleichterung hält meist nicht lange an. Denn anders als Menschen, die ein gebrochenes Bein oder ein Magengeschwür als »Entschuldigung« präsentieren können, wissen depressive Frauen, dass sie mit ihrer Diagnose höchstens auf Mitleid, ganz sicher aber nicht auf viel Verständnis stoßen. Denn mit der Depression verbinden sich im Allgemeinen nur negative Vorstellungen und viele Menschen wissen nicht, wie sie mit den Betroffenen umgehen sollen: Wie sollen sie sich verhalten? Was können sie von ihnen fordern? Depressive Frauen selbst wissen umgekehrt nicht, was sie ihren Mitmenschen zumuten dürfen, wie viel sie ihnen erzählen können, ohne sich selbst zu schaden. Depression gilt vielen Menschen als eine Abweichung von der Norm, ein Zustand des Außer-sich-Seins. Diese Verunsicherung, die mit der Diagnose und der Krankheit Depression verbunden ist, führt dazu, dass viele Betroffene – ebenso wie einige Mediziner und besorgte Familienangehörige – die Symptome am liebsten heute und nicht erst morgen loswerden wollen. Wie bei körperlichen Schmerzen hoffen sie, dass es ein Zaubermittel gibt, | 176 | das ihnen die Last von der Seele zaubert und dafür sorgt, dass alles wieder wird wie zuvor. Tatsächlich gibt es Medikamente, die von der Pharmaindustrie gern als Zauberpillen angepriesen werden und die vor allem Frauen gerne und häufig verordnet werden. Die Verschreibungen von Antidepressiva sind in den letzten Jahrzehnten heftig gestiegen, über den Sinn dieser Medikamente streiten sich die Experten allerdings (siehe Anhang).
Dass eine Betroffene erleichtert ist, wenn sie den Namen ihrer Krankheit erfährt, ist verständlich. Wenn sie aber aus dieser Erleichterung heraus die Verantwortung für ihre Situation an Experten abgibt und hofft, dass dann alles schnell wieder gut wird, geht sie nicht angemessen mit der Depression um und riskiert, dass diese zu einer chronischen Erkrankung wird.
Was aber ist ein angemessener Umgang mit depressiven Stimmungen? Was soll eine Frau tun, wenn sie eine entsprechende Diagnose bekommen hat? Auf keinen Fall sollte sie Depression ausschließlich
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