Wer bin ich ohne dich
mag ein Problem in lesbischen Beziehungen darstellen. Doch Kristine Falco gibt zwei Dinge zu bedenken: »erstens, dass Beziehungsmuster von übertriebener Verschmelzung nicht in jeder lesbischen Beziehung vorkommen, und zweitens, dass Verschmelzung an sich nicht pathologisch ist«. So schätzen viele lesbische Frauen gerade diese Möglichkeit, sich ganz nahe zu sein, als »einen der besten Aspekte im Zusammenhang mit der lesbischen Liebe«, so Falco.
Bei aller emotionaler Nähe scheint lesbischen Paaren die Differenzierung, wie Schnarch sie fordert, durchaus zu gelingen. Darauf weist eine Studie hin, in deren Rahmen lesbische Paare zu ihrem Bedürfnis nach Intimität und Bindung und ihrer Fähigkeit zu Selbstbehauptung und Unabhängigkeit befragt wurden. Inter | 172 | essantes Ergebnis: Während im allgemeinen Verständnis Bindung und Autonomie als Gegensätze angesehen werden, scheint lesbischen Paaren das Kunststück zu gelingen, ihre Unabhängigkeit trotz größtmöglicher Nähe zu wahren. Vielleicht sollte man nicht sagen »trotz«, sondern »wegen«: Möglicherweise können lesbische Frauen gerade deshalb Autonomie entwickeln und leben, weil sie sich in einer engen Beziehung sicher fühlen. Heterosexuellen Frauen fehlt in vielen Fällen dieser »sichere Hafen«, was ihr Risiko erhöht, sich in Beziehungen auf Kosten ihres eigenen Selbst zu verlieren.
Haben lesbische Frauen also ein geringeres Depressionsrisiko als heterosexuelle? Aufgrund der dünnen Forschungslage sind Aussagen nur mit Vorbehalt möglich. Klar ist: Lesbische Frauen sind vor Depression nicht geschützt. Zu den ohnehin vielen Stressfaktoren, denen Frauen ausgesetzt sind, kommen bei ihnen noch weitere hinzu: Aufgrund ihrer nach wie vor schwierigen gesellschaftlichen Situation und durch immer noch vorhandene Vorurteile und Diskriminierungen sind sie meist seelisch sehr belastet. Auch Probleme, die mit der Frage »Outen oder nicht?« verbunden sind, sowie Isolation und Einsamkeit können eine Depression auslösen. Doch wenn gleichgeschlechtlich liebende Frauen in einer stabilen Beziehung leben, sind sie vermutlich vor Depressionen geschützter als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossinnen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien deuten darauf hin, dass Gleichwertigkeit, Gleichberechtigung und emotionale Nähe in lesbischen Beziehungen wichtige Werte sind. Lesbische Frauen können ihre Beziehungsfähigkeit im Zusammenleben mit einer Frau ausleben, sie werden in ihren Bedürfnissen verstanden und gleichzeitig ermutigt, ihren eigenen Weg nicht aus den Augen zu verlieren. | 173 |
Die Weisheit der Königin
Fünf Wege aus der Depression
Aus dem Märchen Rumpelstilzchen kann man, wie eingangs gezeigt, eine Entstehungsgeschichte der Depression herauslesen. Das Schicksal der Müllerstochter zeigt, warum und wodurch in einem Frauenleben eine Depression entstehen kann: Die kritiklose Bereitschaft des Mädchens, sich dem Willen von Vater und dem König anzupassen; das verzweifelte Bemühen, Stroh zu Gold zu spinnen; der fehlende Mut, sich gegen die Zumutungen zu wehren – all das bringt sie in eine verzweifelte Lage. Sie verkauft sich dem kleinen Männchen und verspricht ihm das Wertvollste, was sie hat: ihr erstes Kind.
Dieses Verhalten ist auch vielen depressiven Frauen vertraut. Wie die Müllerstochter lassen auch sie sich viel zu häufig von anderen sagen, was sie tun sollen. Auch sie bemühen sich, die Wünsche und Bedürfnisse anderer, für sie wichtiger Menschen zu erfüllen. Auch sie lassen sich von anderen verwirren, wenn es um die Frage geht, was richtig und was falsch ist. Auch sie akzeptieren bereitwillig Zumutungen und Anforderungen, ohne zu prüfen, ob sie diese erfüllen wollen und können. Auch ihnen fehlt es oft an Mut, sich zu wehren, ihren Ärger zu artikulieren, ihre Ängste zu zeigen. Auch sie bringen sich in eine verzweifelte Lage und sind bereit, das Wertvollste aufzugeben, was sie haben: ihr wahres Ich. Sie zeigen nicht, wer sie wirklich sind, sie zeigen nicht, was sie wirklich denken, sie zeigen nicht ihre wirklichen Gefühle.
Doch Rumpelstilzchen ist nicht nur eine Geschichte über die | 174 | Ursachen der Depression, es ist auch eine Geschichte über die Bewältigung einer zunächst aussichtslos erscheinenden Situation. Das Märchen zeigt nicht nur, welche Wege in die Depression führen, es schildert auch, welche Wege es aus der Depression heraus gibt. Das Männchen jagt der Königin zwar fürchterliche Angst ein, aber
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