Wer bin ich ohne dich
glückliche Kindheit ein stabiles Selbstwertgefühl aufbauen konnten und deren gegenwärtiges Leben weitgehend frei von aktuellen Belastungen ist, kommen mit dieser »Eigenart« der Männer wahrscheinlich gut zurecht. Sie finden Wege, sich nicht allzu sehr vom Distanzierungswunsch ihrer Partner beeindrucken und beeinflussen zu lassen, sie erschließen sich andere Quellen der Zuwendung. Frauen aber, die | 164 | durch eine frühe negative Kindheitsgeschichte oder durch aktuelle Stressbelastungen gefährdet sind, können langfristig die emotionale Kälte in ihren Beziehungen nicht kompensieren.
Fast immer lassen sich im Leben einer depressiven Frau erhebliche Beziehungsdefizite feststellen. Diesen Frauen hilft es zunächst natürlich wenig, zu wissen, dass ihre männlichen Partner unter Umständen an einem erziehungs- und sozialisationsbedingten »Beziehungsdefizitsyndrom« leiden und ihnen deshalb nicht die gewünschte Aufmerksamkeit und Zuwendung geben können. Diese Erkenntnis stürzt sie in Resignation, weil sie glauben, die Hoffnung auf Besserung aufgeben zu müssen. Doch statt zu resignieren ist es besser, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu akzeptieren und damit auch die unterschiedlichen Bedürfnisse anzuerkennen. Die Psychologen Betcher und Pollack meinen: »Eine Versöhnung des Bedürfnisses nach Beziehung mit dem Bedürfnis nach Autonomie wird erst dann möglich, wenn Männer und Frauen einsehen, dass sie Beziehungen auf ganz unterschiedliche Weise erleben, was an ihren jeweiligen Entwicklungswegen liegt.« Wenn diese Versöhnung gelingt, stuft sich die Nähe suchende Frau nicht mehr länger als bedürftig und abhängig ein, nur weil der Partner ihre Wünsche nicht erfüllen kann. Und sie erkennt, dass es nicht immer an der Kälte und Ignoranz des anderen liegt, wenn sie sich einsam fühlt in seiner Anwesenheit. Umgekehrt kann der sich auf dem ständigen Rückzug befindliche Mann vielleicht irgendwann registrieren, dass seine Partnerin ihn nicht verschlingen und vereinnahmen will – eine Erkenntnis, die es ihm möglich macht, ihre Gefühle nicht mehr länger abwehren zu müssen.
Bekommt eine depressive Frau ein Bewusstsein dafür, dass sie aus der falschen »Ecke« Unterstützung und Zuwendung erwartet, kann sie ihre Blickrichtung ändern und andere Quellen entdecken, aus denen sie Energie, Kraft und Zuversicht schöpfen kann. | 165 | Da betroffene Frauen diese Einsicht von ihren Partnern nicht einklagen können, können sie nur bei sich selbst beginnen, diese Einsicht für Veränderungen zu nutzen. Sie können ihr bedürftiges Selbst in Beziehung zu einem unabhängigen Selbst in Beziehung entwickeln. Wie sie diese Aufgabe bewerkstelligen können, wird im Kapitel »Die Weisheit der Königin – Fünf Wege aus der Depression« gezeigt. Zunächst aber soll der Frage nachgegangen werden, ob lesbische Frauen besser vor Depressionen geschützt sind als heterosexuelle. | 166 |
Lesbische Liebe
Mehr Verständnis, weniger Stress
Wenn Frauen vor allem wegen ihrer Beziehungserfahrungen und aufgrund des besonderen Stresses, den die traditionelle Frauenrolle mit sich bringt, an Depression erkranken, dann drängt sich die Frage auf: Sind lesbische Frauen geschützter? Leiden sie seltener unter depressiven Störungen, weil sie nicht mit einem Mann, sondern mit einer Frau leben? Bekommt ihre Beziehungsfähigkeit in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mehr Anerkennung? Fühlen sie sich verstandener und unterstützter als heterosexuelle Frauen? Kurz: Erkranken lesbische Frauen seltener an Depression?
Nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich explizit mit diesen Fragen beschäftigt, und so ist die Forschungslage dazu eher dünn. »Forschung über Depression unter Lesbierinnen ist so gut wie nicht vorhanden«, schreibt die Psychologin Esther D. Rothblum, die sich als eine der wenigen mit dieser Thematik befasst hat. Die wenigen Studien, die vorliegen, erbrachten jedoch interessante Ergebnisse, aus denen sich durchaus einige verallgemeinerbare Schlussfolgerungen ziehen lassen.
Zunächst ein negatives Ergebnis: Es gibt Anhaltspunkte, dass junge gleichgeschlechtlich orientierte Menschen vier Mal häufiger unter depressiven Störungen leiden als heterosexuelle. Wie der Schweizer Psychiater Gottfried Waser berichtet, kommen depressive Störungen bei lesbisch und homosexuell orientierten Menschen »vor allem vor und nach dem 20. Lebensjahr und im | 167 | Laufe des Coming-out« verstärkt vor.
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