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Wer bin ich ohne dich

Wer bin ich ohne dich

Titel: Wer bin ich ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Nuber
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als Störung und als Behinderung betrachten, die ihr das Leben verdunkelt. Wenn sie die Depression verteufelt und zu viel Respekt davor hat, vergibt sie eine große Chance, die mit der depressiven Erkrankung verbunden ist. Dann gelingt es ihr nicht, die Botschaft der Depression zu entschlüsseln und sie für eine grundlegende Veränderung zum Positiven zu nutzen.
    Der Analytiker Carl Gustav Jung riet Depressiven: »Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat.« Beginnt eine Frau das Gespräch mit der »Dame in Schwarz«, bekommt sie mit der Zeit Verständnis für ihre depressive Reaktion und findet Antworten auf Fragen wie »Warum ist mir das passiert? Wie bin ich in diese schwierige Lebenssituation geraten?« Findet eine Frau den Mut zu diesem Dialog, kommt sie dem Sinn ihrer Depression auf die Spur. Möglicherweise erkennt sie dann, dass die depressive Erkrankung unter Umständen die | 177 | einzige vernünftige Reaktion auf Verhältnisse ist, die nicht anders als krankmachend eingestuft werden können.
    Auf manche Situationen und Erfahrungen im Leben kann man nur mit Trauer, mit Wut, mit Rückzug und eben manchmal auch nur mit Depression reagieren. Hat eine Frau das Gefühl, nicht wahrgenommen, nicht gehört, nicht wertgeschätzt zu werden, wird sie von der Angst beherrscht, dass sie ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen ist, ignoriert sie ständig ihre eigenen Grenzen, dann muss sie zwangsläufig irgendwann die Notbremse ziehen. Die Psychotherapeuten Nossrat Peseschkian und Udo Boessmann sind daher der Ansicht, dass Depressionen, ebenso wie Ängste, berechtigte und sinnvolle Reaktionsweisen sind, die nicht bekämpft werden sollten, sondern denen Achtsamkeit und Aufmerksamkeit gebührt. Die Depression schlägt Alarm, meinen Peseschkian und Boessmann, sie ist »ein Aufbegehren des Körpers und der Seele gegen reale Gefahren, ungelöste Konflikte, untragbare Belastungen, unerfüllte Bedürfnisse und ungenutzte Potenziale«.
    Der Schweizer Psychiater Daniel Hell ist ebenfalls ein Vertreter der Sinnthese. Er sieht in der Depression eine »zweckvolle Vorkehrung des Organismus, um Schlimmeres zu verhüten und in bedrohten sozialen Beziehungen Schutz zu finden. Die Weisheit des Körpers diktiert Ruhe und Rückzug, damit eine Erholung stattfinden kann. So kann sich das gestresste System (Körper, Gehirn, Seele) erholen«.
    Die Sichtweise, der Depression einen tieferen Sinn zuzusprechen, vertritt auch die Psychoanalyse. In ihrem Verständnis sind psychische Erkrankungen immer sinnhafte psychische Ausdrucksformen, wie die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber erklärt: »Psychoanalytiker verstehen die Depression, wie überhaupt psychische Erkrankungen, nicht als Störung, die beseitigt werden muss. Symptome haben eine Bedeutung, und diese Bedeutung gilt es zu entschlüsseln.« | 178 |
    Die Experten, die der Depression einen Sinn zusprechen, ignorieren das Leid der Betroffenen nicht. Und schon gar nicht wollen sie die Krankheit Depression verharmlosen oder gar beschönigen. Ganz gleichgültig, wie ausgeprägt der Schweregrad der Depression ist, sie muss ernst genommen werden. Dazu gehört aber auch, dass sie nicht ausschließlich auf hormonelle Veränderungen, biochemische Ungleichgewichte im Gehirn oder Erbfaktoren zurückgeführt und damit zu einem rein medizinischen Problem reduziert werden sollte. Wer die Depression wirklich ernst nimmt, muss nach dem Sinn, nach ihrer Botschaft fragen.
    Depressive Frauen wird die Vorstellung, dass ihr Leiden einen Sinn haben soll, wahrscheinlich zunächst heftig irritieren. Ihre Verzweiflung ist zu groß, die Situation zu unerträglich, das Gefühl der Hilflosigkeit zu bedrückend, als dass sie etwas Positives darin erkennen könnten. Welchen Sinn sollen die schwarzen Gedanken, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die Einsamkeit haben? Wie soll eine Frau es als nützlich ansehen, dass ihr jeder Handgriff schwer fällt, dass sie andere Menschen nicht mehr sehen will, dass sie sich die einfachsten Alltagshandlungen nicht mehr zutraut? Dass eine depressive Erkrankung eine normale und gesunde Reaktion – oftmals die einzig mögliche – auf unnormale, ungesunde Lebenssituationen sein kann, das ist für die Betroffenen verständlicherweise nur schwer nachvollziehbar.
    Randolph M. Nesse, Professor für Psychiatrie an der Universität von Michigan in Ann Arbor, erklärt an

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