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Wer bin ich ohne dich

Wer bin ich ohne dich

Titel: Wer bin ich ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Nuber
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einem Beispiel aus dem Tierreich, warum die Depression eine sinnvolle Anpassungsreaktion sein kann. »Wenn viel Schnee liegt und die Temperaturen niedrig sind, dann wird die Futtersuche für das Wild ungeheuer schwierig und aufwändig. Um nicht unnötig Energie zu verschwenden, bleibt es daher still stehen und wartet – auch wenn es hungrig ist.« Das Wild reagiert auf eine gefährliche Situation mit Stillstand; ähnlich kann auch die depressive Reaktion | 179 | eines Menschen die einzig vernünftige Antwort auf eine ihm gefährlich werdende Lebenssituation sein. »Depression stellt sicher, dass wir unsere Energie nicht an Dinge verschwenden, die es nicht wert sind«, so Nesse.
    Dass depressives Verhalten eine wichtige Funktion haben kann, belegen auch Affenstudien der Verhaltensbiologin Carol Shively von der Wake Forest University School of Medicine in North Carolina. Wie sie berichtet, leben die Affen in Gruppen mit fünf bis zwanzig Mitgliedern, und es gibt eine Hackordnung. Ein untergeordnetes Männchen, das Zugang zum Fressen haben will oder sich mit einem Weibchen paaren möchte, muss viele Kämpfe mit dem dominanten Affenmännchen ausfechten. Es riskiert, dabei verletzt oder gar getötet zu werden. Zusätzlich ist es auch noch Feindseligkeiten vom Rest der Gruppe ausgesetzt. Untergeordnete Affen haben also ein äußerst stressiges Leben. Das zeigt auch die hohe Konzentration des Stresshormons Kortisol in ihrem Blut. Doch einige der sozial schwächeren Tiere scheinen ein Heilmittel gegen den Dauerstress gefunden zu haben: Sie ziehen sich zurück. Diese Affen verbringen viel Zeit alleine und haben keinen körperlichen Kontakt mit anderen Affen. Eine kluge Entscheidung, denn durch ihren Rückzug schützen sich die schwächeren Affen nicht nur vor Angriffen, sie behalten auch ihren Platz in der Gruppe, und sie haben eine, wenn auch kleine Chance, sich fortpflanzen zu können. Ihre Situation ist zwar nicht optimal, doch ihr Rückzug sichert ihnen das Überleben. Und da Affengruppen sich ständig verändern, besteht noch die Aussicht, irgendwann eine andere, bessere Position im sozialen Gefüge einer neuen Gruppe zu ergattern.
    Kann das Verhalten von Tieren wirklich auf den Menschen übertragen werden? Durchaus, meint Carol Shively. Sie sieht im Rückzug der untergeordneten Affen Ähnlichkeiten mit dem Verhalten depressiver Menschen. Auch im menschlichen Leben gibt | 180 | es immer wieder Situationen, in denen es klüger ist, zunächst passiv abzuwarten und nicht zu handeln, etwa wenn ein wichtiger Lebensplan scheitert oder Hoffnungen begraben werden müssen. Gerade in solchen Situationen verfallen die Betroffenen oft in Aktionismus, sie strengen sich an, tun noch mehr desselben. Auf depressive Frauen angewandt, bedeutet das: Sie wollen noch perfekter, noch besser werden, sie sind noch freundlicher, netter, angepasster, um zu erreichen, was sie so dringend benötigen: Anerkennung, Zuwendung, Liebe. Doch irgendwann müssen sie erkennen, dass der verstärkte Energieaufwand ebenfalls nicht zum Ziel führt, sondern stattdessen die Erschöpfung und Verzweiflung zugenommen haben. Damit eine depressive Frau nicht weiter unnütz ihre Energie in falsche Projekte oder falsche Menschen investiert, ist es sinnvoll, wenn ihre Aktivität blockiert und sie ausgebremst wird.
    Die Depression mit ihren lähmenden Symptomen übernimmt diese Aufgabe. Pessimismus, mangelndes Selbstvertrauen und Passivität können helfen, Schaden abzuwenden. So wie Angst ein Signal für Gefahr ist, so ist die Depression ein Signal, dass eine Frau sich vor vergeblichen Anstrengungen schützen sollte. Akzeptiert eine depressive Frau, dass ihr seelischer Zustand einen Sinn hat und nicht schnellstmöglich wegtherapiert werden sollte, dann ist sie bereit, die notwendige Depressionsarbeit zu leisten. Durch diese Arbeit kann sie den bis dahin unbewussten Ursachen der Erkrankung auf die Spur kommen, sie kann über Sinn und Unsinn bestimmter Verhaltensweisen und Ziele nachdenken. Sie kann herausfinden, warum sie sich in diesem Zustand der Verwirrung befindet und beispielsweise feststellen, dass sie sich ständig überfordert, dass sie dringend Unterstützung benötigt, dass sie in krankmachenden Beziehungen lebt oder dass sie sich selbst sträflich vernachlässigt hat. Kurz: Sie kann die Botschaft der Depression entschlüsseln und erkennen, dass sie nicht | 181 | gestört ist, sondern dass sie schon viel zu lange unter gestörten Bedingungen lebt. Die Symptome

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