Wer bin ich ohne dich
ist plötzlich nichts mehr, wie es war.
Eine Frau, die depressiv erkrankt, fällt sprichwörtlich »aus allen Wolken«, so die Schweizer Analytikerin Alice Holzhey. »Man fällt in die Depression im Sinne einer Desillusionierung. Zum Beispiel wenn ein Mensch glaubt: Wenn ich allen alles recht mache, wenn ich alles erfülle, was man von mir erwartet, dann werde ich irgendwann festen Boden unter den Füßen haben, dann wird mein Gefühl, wertlos zu sein, aufhören. Und dann erfährt dieser Mensch immer wieder, dass das nicht möglich ist; das ist dann der Absturz.« In diesem Absturz, so schrecklich er zunächst ist, liegt der Beginn der Gesundung. Denn dieser Absturz raubt einer Frau all ihre Illusionen und Hoffnungen – doch genau die sind es, die für ihre Erkrankung verantwortlich sind:
die Hoffnung, dass die Orientierung an anderen, deren Bedürfnissen und Wünschen ihr Liebe und Anerkennung bringen,
die Hoffnung, dass der Verzicht auf eigene Bedürfnisse und ein eigenes Leben ihnen Sicherheit bringen wird,
die Hoffnung, dass andere Menschen sich ändern werden,
die Hoffnung, dass die Enttäuschung über enge Beziehungen durch eigenen Einsatz und eigene Bemühungen verschwinden wird, | 184 |
die Hoffnung, dass andere schon noch erkennen, was sie braucht, und es ihr geben werden,
die Hoffnung, dass andere Menschen ihr den eigenen Wert bestätigen und sie sich nicht mehr so klein, so unfähig, so ungeliebt fühlen muss.
In der Phase der Desillusionierung entdeckt die depressive Frau langsam ihre eigene Wahrheit. Sie spürt, dass ihre bisherige Lebenseinstellung und ihr Verhalten selbstschädigend sind. Allerdings ist die Gefahr groß, dass sie nun, da sie die Wahrheit erkennt, den Mut nicht aufbringt, sich der Trauer zu stellen, die mit der Wahrheit verbunden ist. »Die Depressiven sind nahe bei der Trauer, aber sie verweigern sich ihr auch. Hier gilt es, Mut zu machen, in die Trauer hineinzugehen, sie zu durchleben«, meint Alice Holzhey. Diesen Mut kann eine betroffene Frau in den meisten Fällen nicht alleine aufbringen. Sie benötigt Unterstützung. Jemanden, der ihr hilft, die auftauchenden Gefühle und Erkenntnisse aushalten und akzeptieren zu können (siehe 3. Strategie).
2. Strategie:
»Drei Tage will ich dir Zeit lassen« – Selbst aktiv werden
Die Königin versinkt nicht in Untätigkeit. Sie wird aktiv. Kreativ denkt sie sich mögliche Namen aus. Wie könnte das Männchen wohl heißen? Sie lässt ihre Fantasie spielen: Hinz, Kunz, Schnürbein …?
Auch reale Frauen, die ihre Depression überwinden wollen, bilden Hypothesen und machen sich auf die Suche nach den Ursachen ihrer Depression. Ist die Depression eine körperliche | 185 | Krankheit, ist sie seelischer Natur? Was hat sie in diese Situation gebracht? In dieser Phase lernen sie viel Neues über sich. Sie bekommen eine Ahnung, was genau ihnen nicht gut tut, wo sie die Weichen anders stellen müssen. So wie die Königin verschiedene Namensvariationen erprobt, so experimentieren depressive Frauen mit sich und anderen. Sie stellen vielleicht fest, dass sie sich in Gegenwart bestimmter Menschen ganz besonders unwohl fühlen (»Wenn ich mit meinem Mann zusammen bin, bin ich sehr viel depressiver als ohne ihn«, »Immer, wenn ich meine Mutter besuche, geht es mir danach schlecht«). Oder sie merken, dass manche ihrer Freunde nur so lange Freunde sind, wie sie bekommen, was diese erwarten (»Immer muss ich anrufen«, »Meine Freundin erzählt mir all ihre Sorgen, aber sie fragt nicht, wie es mir geht.«) Und ganz bestimmt stellen sie fest, dass sie selbst unter einem »falschen Namen« auftreten und ein falsches Bild von sich vermitteln. So wie sie sich geben, so sind sie nicht. Eigentlich sind sie gar nicht so nett, so selbstlos, so geduldig. Ihr wahres Selbst sieht anders aus als das, was sie ihrer Umwelt präsentieren.
In der Experimentierphase achten die betroffenen Frauen nicht nur darauf, wann sie sich besonders niedergeschlagen und ungeliebt fühlen, sie achten ebenso darauf, wer und was ihnen dabei hilft, damit die Depression weniger intensiv spürbar ist. Möglicherweise stellen sie dann fest: Wenn ich Sport treibe, wenn ich mit dieser Freundin telefoniere, wenn ich ein gutes Buch lese, wenn ich Musik höre, wenn ich mich in meine Arbeit vertiefe, geht es mir besser. Sie erkennen, dass sie kein passives Opfer ihrer Depression sein müssen, sondern durchaus Einfluss auf sie nehmen können – zum Beispiel, indem sie
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