Wer bin ich ohne dich
hilfreiche Strategie gegen die Depression und auch ein stabiler Schutz vor ihr sein. Denn wie gezeigt, bleiben sich Männer und Frauen in ihren Beziehungen aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen immer in einem gewissen Maße fremd: Frauen suchen Bindung und Nähe, Männer brauchen die sichere Distanz. In manchen Beziehungen ist diese Fremdheit nicht sehr groß und leicht zu ertragen, in anderen kann sie zu einer Kälte führen, die für depressionsgefährdete Frauen unerträglich ist. Hier kann es sehr hilfreich sein, sich vom männlichen Part abzuwenden und sich eine weibliche Begleiterin zu suchen, mit der es kein Fremdheitsgefühl gibt, und mit der das Bedürfnis nach »in Beziehung sein« erfüllt werden kann.
Wie schon im Kapitel »Stroh zu Gold spinnen – Der Stress der Frauen« gezeigt, ist es eine weibliche Anti-Stress-Strategie (»tend and befriend«), sich in schwierigen Zeiten mit Geschlechtsgenossinnen zu verbünden und gemeinsam mit ihnen den Stürmen zu trotzen. Frauen, die an Depression erkrankt sind oder an einem schweren Erschöpfungssyndrom leiden, können in einer Freundin eine hilfreiche Botin entdecken, die sie in ihrer Not nicht alleine lässt. Und auch die Tatsache, dass lesbische Frauen | 189 | sich in ihren Beziehungen sicherer und aufgehobener fühlen als Frauen in heterosexuellen Partnerschaften, ist ein Hinweis darauf, dass Frauen sich gegenseitig viel Kraft und vor allem auch emotionale Unterstützung geben können.
Die Forschung bestätigt den enormen Wert von Frauenfreundschaften. Freundinnen sprechen miteinander über ihre intimsten Gedanke und Probleme, sie geben sich gegenseitig Unterstützung und fühlen sich dadurch seelisch gestärkt. Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast fand den enormen Wert von Frauenfreundschaften in einer eigenen Befragung bestätigt: »Bei der besten Freundin spüren Frauen Nähe, Wärme, fühlen sich geborgen und sicher, auch wenn sie etwas machen, das die Freundin nicht versteht.«
Aber Freundinnen können einander nicht nur emotionale Unterstützung geben, sie können sich auch helfen, wenn es darum geht, alternative Denk- und Verhaltensweisen zu erproben. Im geschützten Rahmen der Freundschaft können sie es riskieren, sie selbst zu sein und auch neue Beziehungsmuster ausprobieren. Mit einer Freundin kann eine depressive Frau ausprobieren, wie es ist, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen.
Hildegard war immer sehr bemüht, niemanden zu verletzen und Rücksicht auf andere zu nehmen – und sie wusste inzwischen, dass das eine wichtige Ursache für ihre depressive Verfassung war. Vor allem die Beziehung zu ihrem Freund Alex war dadurch in eine für sie ungute Schieflage geraten. Sie fühlte sich von ihm ausgenutzt und häufig auch ignoriert. Hildegard wollte ihr Verhalten ändern, aber es fiel ihr sehr schwer, aus dem vertrauten Muster auszusteigen. Vor allem bei ihrem Freund Alex geriet sie immer wieder in die Rolle der Versteherin und Unterstützerin. Um sich in Zukunft besser schützen zu können, bat sie ihre Freundin Ulrike um Hilfe. Sie vereinbarte mit ihr, sie vor jeder Aktion mit oder für Alex zu kontaktieren. Und das tat sie. Ehe sie für Alex einkaufen ging, | 190 | ehe sie Alex anrief, um zu fragen, ob er was benötige oder ob sie bei ihm vorbeikommen dürfe, rief sie ihre Freundin an. Und im Gespräch mit dieser klärte sie, ob sie den Kontakt zu Alex wirklich wollte oder ob sie aus Schuldgefühlen heraus wieder schwach wurde.
Auch das Beispiel von Sonja zeigt, wie hilfreich Freundinnen im Prozess der Selbstfindung sein können.
Sonja hatte sich in der Vergangenheit immer sehr um ihren herzkranken Freund gekümmert. Sie wohnten nicht zusammen, und sie musste immer durch die halbe Stadt fahren, um zu ihm zu kommen. Für sie war das alles selbstverständlich, auch wenn sie nach jedem Besuch niedergeschlagen war. Niemals hatte er ein Wort des Dankes für sie, niemals fragte er sie, wie es ihr ginge. Es war für ihn selbstverständlich, dass sie zu ihm kam und für ihn da war. Als sie dann depressiv erkrankte und seine Hilfe gebraucht hätte, ließ er sich nicht bei ihr sehen. Und er besuchte sie auch nicht, als sie sich in einer psychosomatischen Klinik erholte. Im Laufe ihres Depressionsprozesses erkannte Sonja, dass die Beziehung einen großen Anteil an ihrer Erkrankung hatte. Sie nahm sich deshalb vor, ihren Freund nicht mehr zu besuchen und sich auch von seiner Herzkrankheit nicht mehr länger erpressen zu lassen. Doch das war
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