Wer bin ich ohne dich
ihr inneres Gleichgewicht finden. Dazu muss sie ihrem wahren Selbst eine Chance geben und ihm eine Stimme verleihen. Sie darf nicht mehr länger schweigen, wenn sie etwas zu sagen hat. Sie darf nicht mehr so tun, als könne sie tatsächlich Stroh zu Gold spinnen. Sie darf nicht mehr länger so | 210 | tun, als wären die Bedürfnisse anderer immer wichtiger als ihre eigenen.
Ist eine Frau bereit, den Dialog mit der Dame in Schwarz aufzunehmen, braucht sie Mut und Ausdauer. Sie sollte Geduld mit sich haben und sich Zeit lassen – die Königin brauchte schließlich auch drei Anläufe, bis sie die Lösung fand. Seelische Veränderungen geschehen nicht rasch.
Beschäftigt sich eine Frau mit der Depression, darf sie sich nicht von ihren Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit einschüchtern lassen, sie muss trotz der scheinbaren Handlungsunfähigkeit versuchen, aktiv zu werden, und sie braucht all ihr Wissen, ihre Kreativität und Fantasie, um sich den Forderungen des Männchens nicht kampflos zu unterwerfen. Nur so kann sie erkennen, warum sie depressiv geworden ist, und was sie selbst dagegen tun kann. Sie wird merken, dass sie sich zum Schweigen gebracht hat, und dass es nun an der Zeit ist, die Stimme zu erheben und den Ton lauter zu drehen.
Frauen, die den Kampf gegen die Depression aufnehmen, müssen – wie die Königin – zwei Dinge in Angriff nehmen, um die beiden größten Depressionsquellen in ihrem Leben, den Stress und unerfüllte Bindungswünsche, langsam zum Versiegen zu bringen:
Sie sollten lernen, sich selbst wichtiger zu nehmen, als sie es in der Vergangenheit getan haben. Sie können den vielfältigen Stress in ihrem Leben nur dann angemessen bewältigen und dafür sorgen, dass sie nicht unter ihren Pflichten und Aufgaben zusammenbrechen, wenn sie lernen, sich selbst in die erste Reihe zu stellen. Das Zitat »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist es dann?«, sollte zu ihrem Lebensmotto werden.
Frauen, die ihre Depression überwinden wollen, müssen ihre Rolle als nettes Mädchen aufgeben. Nett ist die kleine Schwester | 211 | von Scheiße lautet der Titel eines Buches – und auch wenn man es weniger drastisch ausdrücken will, kommt man nicht um die Feststellung: Nettsein ist eine Einbahnstraße. Wer nett ist, ist beliebt, aber er wird ausgenutzt und bekommt nicht, was er sich wünscht, nämlich Anerkennung und eine Gegenleistung für das Nettsein. Lernen depressive Frauen, weniger nett zu sein, dafür aber auf gute Weise fordernder zu werden, wird ihr Gefühl, nicht gesehen und nicht ernst genommen zu werden, langsam verschwinden. | 212 |
Wer bin ich ohne dich?
Ich!
Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer beschreibt depressive Menschen als »besonders angenehm, scheinbar belastbar und begabt« – eine Charakterisierung, die ohne Zweifel in besonderem Maße auf depressive oder depressionsgefährdete Frauen zutrifft:
Sie sind überaus angenehm, einfühlsam und anderen Menschen zugewandt und deshalb bei anderen als Gesprächspartnerinnen gefragt – bis sie die Kraft dazu nicht mehr aufbringen. Dann ziehen sich andere oft schnell zurück. Zudem neigen sie nicht zur Selbstüberschätzung, schon gar nicht zum Egoismus und sind schon allein deshalb für andere oftmals eine angenehme Gesellschaft.
Sie sind unendlich belastbar und leistungsfähig – bis sie zusammenbrechen.
Begabt sind sie allemal, sonst könnten sie die vielen Herausforderungen in ihrem Leben nicht so diszipliniert und perfekt organisieren, wie sie es tun – solange sie die Krankheit noch nicht überwältigt hat.
Frauen, die depressiv erkranken, sind im Grunde starke Frauen. Leider haben sie kein Bewusstsein für ihre Stärke, ganz im Gegenteil: Ihr vorherrschendes Gefühl ist das Gefühl der Schwäche | 213 | und der Unterlegenheit. Sie nutzen ihre Begabungen fast immer nur zur Selbstausbeutung, nicht zur Selbstentwicklung. Und zudem werden sie durch die vielfältigen chronischen Stressquellen und durch eine tiefgreifende Verlusterfahrung – sie müssen häufig feststellen, dass ihr Wunsch nach innigen Beziehungen nicht in Erfüllung geht – daran gehindert, ein Bewusstsein für ihre Stärke zu entwickeln. Eine Frau, die immer mit dem Gefühl der Unvollständigkeit kämpfen muss und das Gefühl hat, in ihrem Wesen nicht wahrgenommen zu werden, verliert das Vertrauen in ihre eigenen Möglichkeiten. Die Depression bietet die Chance, dieses Selbstvertrauen zurückzugewinnen.
Frauen, die sich der Depression
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