Wer bin ich ohne dich
schiefen Ebenen. Deren Merkmal ist, dass eine Frau sich nicht verstanden fühlt, nicht wahrgenommen, nicht gehört. Das aber liegt nicht unbedingt immer nur an den anderen, sondern eben häufig auch daran, dass sie im übertragenen Sinn zu leise spricht (oder gar nicht), dass sie aus dem Kind-Status spricht und nicht als erwachsene Frau. Eine Frau, die die Erwachsenenposition einnimmt, weiß ganz genau, dass nett und lieb sein keine Garantie dafür ist, dass die anderen sie ihrerseits nett und lieb behandeln. Sie weiß sehr genau, dass sie nur dann bekommt, was sie will, wenn sie laut und deutlich für sich selbst spricht, wenn sie Nein sagen kann, nicht freundlich lächelt, wenn ihr nicht danach ist. Eine Frau, die die Erwachsenenposition einnimmt, versteckt ihren Ärger nicht hinter Nörgeleien, hinter Kopfschmerzen oder stiller Verweigerung. Und sie hat keine Angst, dass sie sich im Ton vergreift, weil sie ihren Ärger nicht zurückhält, sondern sofort zeigt, wenn er auftritt. Damit schützt sie sich vor Irrationalitäten und heftigen Gefühlsausbrüchen. | 208 |
»Die gesunde und gekonnte Aggressivität ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Selbstwertgefühls, des Gefühls für die Würde unserer Persönlichkeit und für einen gesunden Stolz. Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität«, schreibt Riemann. Eine Frau, die ihre Würde zurückgewinnen möchte, kommt nicht umhin, das nette Mädchen in ihr zum Verstummen zu bringen, und der erwachsenen Frau zu erlauben, die Stimme zu erheben. Damit ihr das gelingt, muss sie Folgendes tun:
Sie muss sich immer wieder klar machen, dass sie sich selbst seelisch schwächt, wenn sie darauf verzichtet, von anderen Respekt und einen angemessenen Umgangston zu verlangen. Wenn andere mit ihr machen können, was sie wollen, dann kommen Gefühle von Hilflosigkeit und Lähmung auf. Diese Gefühle können ihr die Lebensfreude und Energie rauben.
Sie muss lernen, auf ihr Gefühl zu hören. Selbstzweifel sind darauf zurückzuführen, dass sie von ihrer Umwelt nicht ausreichend Aufmerksamkeit und Resonanz bekommt. Dann traut sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht. Nicht depressive Frauen kennen solche Zweifel nicht. Sie wissen: »Wenn mir mein Gefühl signalisiert ›Das ist nicht richtig, was der andere sagt oder tut‹ oder wenn mir in Gegenwart eines bestimmten Menschen unbehaglich ist, muss ich nicht abwarten, bis mir jemand mein Gefühl bestätigt. Ich darf, ich muss handeln, mir zuliebe.«
Eine Frau, die jahrelang die Zornesausbrüche ihres Mannes tapfer ertragen hatte, um ihn nicht noch unnötig zu reizen, erkannte eines Tages, dass sie nicht mehr bereit war, diesen Stress auszuhalten. Sie fing an, sich gegen seine Schimpfereien und Aggressionen zur Wehr zu setzen. Sie erklärte ihm, dass sein Verhalten | 209 | eine Art seelische Umweltverschmutzung sei und sie das nicht mehr ertragen könne. Sie werde ab sofort den Raum verlassen, wenn er seinem Zorn wieder freien Lauf lasse. Zunächst steigerte sich dadurch die Wut des Ehemannes. Doch als sie konsequent immer das Zimmer verließ, wenn er loslegte, wurden seine Tobsuchtsanfälle seltener.
Die Depression ist ein Signal dafür, dass eine Frau in der Vergangenheit sich selbst zum Schweigen gebracht hat. Sie ist ein Signal dafür, dass es zu viel Aufmerksamkeit für andere Menschen gab, zu viel folgsame Anpassung und zu wenig Auflehnung gegen Zumutungen und zu wenig Respekt für Eigenes. Der Schweizer Depressionsexperte Daniel Hell beschreibt Depression als einen Zustand, in dem ein Mensch um ein verlorenes Gleichgewicht kämpft. »Es ist kein Zufall«, so Hell, »dass manche von einem Nervenzusammenbruch sprechen, viele andere von einem Gefühl der Ohnmacht, der psychischen Lähmung, des Schwindels oder davon, dass ihr gewohntes Leben durcheinander geraten ist, nicht mehr selbstverständlich ist und sie nicht mehr ein noch aus wissen. Mit solchen Bildern drücken sehr viele depressive Menschen aus, dass sie ein für sie früher selbstverständliches oder mühsam gehaltenes Gleichgewicht verloren haben.«
Das Gleichgewicht, das depressive Frauen verloren haben, war auch vor der Erkrankung nicht wirklich stabil und oftmals nur eine Illusion. Der Depression ist es zu verdanken, wenn diese Illusion aufgedeckt und die Instabilität des Lebens endlich bewusst erlebbar wird. Erst wenn eine Frau erkennt, was in ihrem Leben nicht im Lot ist, kann sie
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