Wer Bist Du, Gott
und Ohnmacht leben dürfen
So wird mir nichts mehr fehlen
und ich finde Geborgenheit in Dir
Pierre Stutz (nach Psalm 23,1)
GOTT ERFAHREN
Gottes Anwesenheit und Wirken in unserem Leben wahrnehmen
WUNIBALD MÜLLER: Das eine ist, über Gott nachzudenken, über Gott zu reden. Das andere, Gott zu erfahren, seine Anwesenheit und sein Wirken in unserem Leben und Alltag wahrzunehmen. Ich gehe jedenfalls von Gottes Existenz aus, spreche zu ihm, bete zu ihm. Dabei kann ich gut verstehen, dass das andere nicht können, dass es für sie unredlich wäre und einfach nicht stimmen würde. Für mich ist es redlich, für mich stimmt es.
Dabei weiß ich nicht, ob es Gott gibt. Es gibt aber eine innere Gewissheit und ich folge meinem innersten Begehren, wenn ich zu ihm spreche und bete. Ich erfahre Gott dabei oft als einen Vertrauten, als ein »Du«. Doch das ist nicht immer so: Denn ich kenne ebenso Momente, in denen er mir fremd vorkommt, ich ihn als weit entfernt von mir erlebe oder gar als abwesend. Und dann gibt es diese Augenblicke, da ist er mir ganz nahe, ganz in mir, zu innigst da.
ANSELM GRÜN: Wir werden immer mit dieser Spannung leben müssen:Wir erfahren Gott und erfahren ihn nicht. Er zeigt sich uns, und er entzieht sich uns.Wir erleben Gott als »Du«. Und dann entschwindet uns das Gegenüber, die Personalität Gottes wird uns fremd. Es gibt dann auch Phasen, in denen uns der apersonale Gott anspricht, in denen wir etwas von Gott erahnen, wenn wir die Schönheit der Schöpfung betrachten, wenn wir eine innere Energie in uns spüren, wenn wir etwas Heiliges erleben, wenn uns in der Musik etwas Göttliches entgegentönt. Wir dürfen Gott nicht festlegen. Wir sollen uns selbst nicht unter Druck setzen. Wir müssen auch damit leben, dass wir eine Zeit lang gottlos oder gottfern leben, dass sich Gott im Dunkeln verbirgt.
»Ich suche Gott! Ich suche Gott!«
WUNIBALD MÜLLER: Was du sagst, erinnert mich an eine Aussage, die Hegel zugeschrieben wird. So soll er gesagt haben: »Schon als junger Philosoph in Tübingen habe ich gelehrt: Die Lebendigkeit, das Leben selbst, ist die innere Quelle, Gott zu erfahren. Ich lasse mich deswegen auch heute gern von der Musik von Johann Sebastian Bach ansprechen, weil sie so deutlich den Übergang des Menschen zu Gott und die Hinwendung Gottes zum Menschen ausdrückt« (in: Modehn 2009, S. 55).
Doch, so frage ich mich manchmal, sind wir überhaupt noch sensibel und empfänglich für die Gegenwart Gottes in
unserer Zeit und in unserem Alltag? Der Theologe Johann Baptist Metz spricht von »Gottesverdunstung« und meint damit sicher auch, dass Gott in unserer Welt und in unserer Wahrnehmung eine immer geringere Rolle spielt. Bis dahin, dass sich Gott für uns - im wahrsten Sinne des Wortes - in Luft auflöst.
Auch ich glaube, dass uns mehr und mehr die Sensibilität für Gott, seine Existenz und sein Wirken verloren geht. Mir fällt eine Erzählung von Friedrich Nietzsche ein, die er in seinem Werk Die fröhliche Wissenschaft beschreibt: Ein Verrückter entzündet am helllichten Tag eine Laterne, rennt auf den überfüllten Marktplatz und schreit: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Die Menschen lachen über ihn und fragen: »Ist er denn verloren gegangen? Hat er sich verlaufen wie ein Kind? Hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er ausgewandert?« Da richtet der Verrückte sich auf und ruft: »Wohin ist Gott?... Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Gott ist tot... und wir haben ihn getötet!« Dann schweigt er und zertrümmert die Laterne.
Mich spricht dieser Text sehr an. Auch deshalb, weil Friedrich Nietzsche damit etwas sagt, was so sehr auf unsere Wirklichkeit zutrifft: Für viele Menschen ist Gott heute nicht länger eine Sinn und Trost spendende Kraft, die in ihren Alltag hineinwirkt. Gott ist für sie tot. Nicht, dass sie jetzt unbedingt die Existenz Gottes verneinen. Doch Gott ist ihnen nur außen, an der Oberfläche, begegnet, er ist ihnen aber nicht aus der eigenen Seele entgegengetreten und deshalb für ihre Wahrnehmung nicht zugänglich.
Mir fallen in diesem Zusammenhang folgende Worte C.G. Jungs (1972, S. 25) ein: »Zu wenige haben es erfahren,
dass die göttliche Gestalt innerstes Eigentum der eigenen Seele ist. Ein Christus ist ihnen nur außen begegnet, aber nie aus der eigenen Seele entgegengetreten;... solange die Religion nur Glaube und äußere Form... ist, so ist nichts Gründliches
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