Wer Bist Du, Gott
meinem Alltag wachzurufen. Am Morgen ist es oft ein Psalm, den ich bete, zur Mittagszeit nehme ich am Mittagsgebet der Mönche in der Klosterkirche teil und am Abend vor dem Schlafengehen verweile ich kurz vor der Ikone, die in der Gebetsecke meines Arbeitszimmers hängt. Und wenn am Freitagnachmittag die Glocken läuten zur Erinnerung an Jesu Tod, halte ich für eine Weile inne.
Für mich stand in den letzten Jahren aber nicht mehr die Frage im Vordergrund, ob Gott da ist oder was dieses oder jenes mit ihm zu tun hat. Mein Fragen ist einer inneren Gewissheit gewichen, dass Gott da ist, auch wenn er mir immer wieder fern erscheint. Doch natürlich beschäftigt mich Gott weiterhin. Gott, dessen Anwesenheit ich in meinem Inneren verspüre. Gott, den ich im Beten, in vielen privaten und beruflichen Begegnungen erfahren darf. Gott, den ich manchmal in der Kirche, der ich angehöre, aber auch in anderen Glaubensgemeinschaften entdecke. Den ich vor allem aber dort entdecke, wo er nicht greifbar, verfügbar, »machbar« ist. Dort, wo er ein Geheimnis bleibt, zugleich aber auch auf unnachahmbare und geheimnisvolle Weise in mir und unter uns lebt und wirkt.
ANSELM GRÜN: Früher habe ich mit Gott oft konkrete Bilder verbunden: der weise Vater, der mütterliche Gott, der Gott, der mich antreibt, meine Fehler zu überwinden. Diese Gottesbilder tauchen auch jetzt oft noch auf. Sie sind legitim. Dennoch wird mir das Wort, mit dem Karl Rahner Gott vor allem beschreibt, zunehmend wichtiger: als Geheimnis.
Gott ist das Geheimnis, das mich umgibt, das Geheimnis, das in mir wohnt.Weil Gott, das Geheimnis, in mir wohnt, kann ich auch bei mir selbst zu Hause sein.
Wenn ich mit Menschen über den Glauben an Gott spreche, dann frage ich immer, ob sie einen Sinn für das Geheimnis haben oder ob sie alles erklären können. Wer offen ist für das Geheimnis, der ist letztlich auch offen für Gott, auch wenn er kein konkretes Gottesbild hat. Das Geheimnis Gottes ist unbegreiflich, oft genug verborgen. Aber manchmal tritt mir aus diesem Geheimnis heraus das Bild eines leuchtenden Antlitzes entgegen, eines liebenden Du, das mich persönlich meint.
Gott als Grund unseres Lebens
WUNIBALD MÜLLER: O ja, das kenne ich, und wenn ich es über eine längere Zeit nicht erfahre, dann sehne ich mich danach und bin beglückt, wenn es mir widerfährt. Denn die entscheidende Größe, die für mich letztlich zählt und um die es nach meiner Überzeugung auch letztlich in der Beziehung zu Gott geht, ist die Erfahrung. Es geht darum, Gott zu erfahren, ihm in der Tiefe meiner Seele und in der Wirklichkeit des Alltags zu begegnen.
Hermann Hesse (2003, S. 263ff.) schreibt in einer Weihnachtsgeschichte: »... über alle Wandlungen, Krisen, Erschütterungen und Wiederbesinnungen unseres privaten Lebens wie unsrer Epoche hinweg, hat sich in uns ein Kern erhalten,
ein Sinn, eine Gnade, nicht an irgendein Dogma der Kirchen oder der Wissenschaften, sondern an das Vorhandensein einer Mitte,... ein Glaube an die Erreichbarkeit Gottes von eben diesem innersten Kern unseres Wesens aus, an die Koinzidenz dieses Zentrums mit der Gegenwart Gottes.«
Darum geht es: Gott als Grund meines Lebens zu erfahren. Denn die Lehre einer Kirche über Gott würde zur Leere, wenn die Dimension der Erfahrung wegfiele. Für den evangelischen Theologen Paul Tillich macht es nur dann Sinn, von Gott zu reden, wenn es auf menschliche Erfahrungen bezogen bleibt, wobei für ihn wichtig ist, diese Erfahrung zu ihrer Tiefendimension hin zu befreien. Das heißt: Religion ist dann weder ein System von Lehren über Gott und die Welt noch ein nur für Insider betretbares Labyrinth von Regeln und Gebräuchen .
ANSELM GRÜN: In der Begegnung mit suchenden Menschen erlebe ich immer wieder, dass sie sich nicht begnügen mit dem Gott, über den wir gescheite Worte sagen. Sie möchten Gott erfahren. In meinen Jugendkursen habe ich immer diese tiefe Sehnsucht der jungen Menschen gespürt, dass sie Gott erfahren wollen. Mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen meiner Kurse mache ich immer auch Übungen, die helfen sollen, Gott zu erfahren. Aber zugleich versuche ich den Menschen zu vermitteln, dass wir uns nicht unter Erfahrungsdruck setzen dürfen.
Wir können die Erfahrung Gottes nicht erzwingen. Manchmal entzieht sich Gott. Es gibt Zeiten der Erfahrung und Zeiten der Nicht-Erfahrung. Beides gehört zum Glauben.
Manchmal müssen wir uns begnügen mit der Sehnsucht nach Gott, die wir in
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