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Wer Bist Du, Gott

Titel: Wer Bist Du, Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Gruen
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Seiten unserer eigenen Seele. Nur dann verwandelt uns die Begegnung mit Gott. Sonst würden wir Gott nur dazu missbrauchen, uns als fehlerlose »Pharisäer« hinzustellen und das Böse auf andere Menschen zu projizieren. Das geschieht ja bei vielen christlichen Moralisten und bei fundamentalistischen Christen, die sich allein als rechtgläubig betrachten und alle anderen mit sehr aggressiven Ausdrücken belegen, die ihrem Gottesbild der reinen Liebe ganz und gar nicht entsprechen.Wenn das Dunkle nicht integriert wird, wird es auf andere projiziert.

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    WUNIBALD MÜLLER: Wir sprechen über Gott und das Leid und über die dunkle Seite Gottes. Dazu kann auch die Erfahrung von Gott-Verlassenheit zählen, vor der selbst Menschen, die an Gott glauben und die ihm ihr Leben verschrieben haben, nicht verschont bleiben. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, schrie Jesus am Kreuz.
    Auch die Gott-Verlassenheit, die Gott uns zumutet, müssen wir aushalten. Ebenso das Gefühl, von Gott alleingelassen zu sein. Hier gilt es, sich nicht zu schnell der Erfahrung des Alleinseins zu entledigen, indem man sich an Gott festklammert. Ich muss mich in meinem Alleinsein aushalten können, um Gott auf einer tieferen Ebene begegnen zu können. Doch darüber werden wir ja im nächsten Kapitel ausführlicher sprechen.
     
     
    ANSELM GRÜN: Johann Baptist Metz (1991, S. 29) macht der heutigen Theologie den Vorwurf, dass sie den Verlassenheitsschrei Jesu »mythisch oder idealistisch zum Verstummen gebracht« habe. An diesem Vorwurf ist sicher etwas dran. Jesus hat mit diesem Schrei am Kreuz geendet. Die Auferstehung lässt diesen Schrei nicht verstummen. Sie erlaubt uns vielmehr, dass wir uns der eigenen Verlassenheit stellen. Die Erfahrung der Verlassenheit gehört zu unserer Gottesbeziehung. Die Exegeten sagen uns, dass der Schrei Jesu am Kreuz der erste Vers von Psalm 22 ist. Und es ist wahrscheinlich, dass Jesus den ganzen Psalm am Kreuz gebetet hat. Dieser Psalm endet nicht in der Verzweiflung, sondern im Vertrauen:
»Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört« (Ps 22,25).
    Jesus schreit seine Klage Gott entgegen. Er wendet sich in seiner Verlassenheit an den, der ihn auch noch in der letzten Einsamkeit trägt. Die Spannung, die in diesem Vers zum Ausdruck kommt, gilt auch für uns: Trotz allen Glaubens, trotz aller spirituellen Wege gibt es Erfahrungen von Verlassenheit, von Gottferne, von Dunkelheit, von Verzweiflung, die wir nicht überspringen dürfen. Friedrich Nietzsche aber hat es so ausgedrückt, dass wir nicht in der Verzweiflung bleiben, sondern sie mit unserer Sehnsucht verbinden sollten. Dann entsteht in diesem Abgrund zwischen Verzweiflung und Sehnsucht Mystik: »Wo Verzweiflung und Sehnsucht sich begatten, da entsteht Mystik.«

GOTT UND DIE HEILUNG DES MENSCHEN

Gott die ganze Wahrheit hinhalten
    ANSELM GRÜN: In der geistlichen Begleitung erlebe ich, dass Menschen in ihrer Spiritualität krank geworden sind, weil sie nicht den Mut hatten, ihre ganze Wahrheit Gott hinzuhalten. Sie haben Gott vielmehr dazu missbraucht, ihre eigenen Schattenseiten abzuspalten. Umgekehrt erlebe ich aber auch, dass der Glaube zu heilen vermag. Gott entfremdet uns nicht der eigenen Wirklichkeit, sondern führt uns in den Grund unserer Seele, dorthin, wo heilende Kräfte in uns sind.
    Amerikanische Psychologen und Mediziner haben Forschungen angestellt, um zu beweisen, dass die Beziehung zu Gott eine heilsame Wirkung auf den Menschen hat und dass Krankheiten schneller heilen, wenn Menschen eine gute Beziehung zu Gott haben und regelmäßig zu ihm beten. Diese Untersuchungen können uns darin bestätigen, in Gott den Grund unseres Heils und unserer Heilung zu sehen. Aber manchmal habe ich auch den Eindruck, dass sie Gott allzu leicht verzwecken wollen. Man
möchte beweisen, dass es etwas bringt, an Gott zu glauben und zu ihm zu beten.
    Für mich geht es in erster Linie darum, eine gesunde Spiritualität zu entwickeln, in der ich mit meiner ganzen Wahrheit vor Gott sein darf, in der ich Gott als den erlebe, der mich mit seiner heilenden Liebe durchdringt. Das Ziel der Spiritualität ist nicht, gesund zu werden, sondern Gott zu begegnen. Aber wenn ich Gott begegne, dann kann das sehr wohl zu meiner Gesundung beitragen.
    Das haben schon die frühen Mönche so erkannt. Evagrius Ponticus meint, der erste Schritt auf dem Weg zu Gott sei die

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