Wer Bist Du, Gott
Auseinandersetzung mit den neun Leidenschaften der Seele. Indem ich mich den Leidenschaften stelle und mich mit ihnen auseinandersetze, gelange ich zur apatheia, zur »inneren Freiheit«, werde frei vom pathologischen Verhaftetsein an die Leidenschaften (an die pathe ). Evagrius bezeichnet apatheia als Gesundheit der Seele. Die Begegnung mit Gott, dem ich meine Wahrheit hinhalte, führt also nach Evagrius zur Gesundheit der Seele. Gott wird hier nicht verzweckt. Die Gesundheit ist vielmehr das Geschenk echter Gottesbegegnung.
WUNIBALD MÜLLER: Das Ziel der Spiritualität ist nicht, gesund zu werden, sondern Gott zu begegnen, sagst du. Das vergisst man oft. Dann muss die Spiritualität für etwas herhalten, wofür sie nicht zuständig ist. Etwas anderes ist es, gut hinzuschauen, ob ich eine Spiritualität pflege, die zu meiner körperlichen und seelischen Gesundheit beiträgt, diese fördert - oder aber ihr schadet. So gibt es auch eine Spiritualität, die krank macht, indem sie von uns mehr verlangt, als
wir körperlich leisten können. Auch gibt es eine Spiritualität, die uns kleinhält, uns depressiv stimmt, die unsere Kreativität und Spontaneität durch Legalismus und Dogmatismus tötet oder uns mit falschen Schuldgefühlen belädt. Eine solche Spiritualität nährt uns nicht, sondern zehrt uns aus.
Eine gesunde, lebendige Spiritualität muss mit dem ganzen Menschen verwoben sein. Sie muss durch mich, meine Art, in der Welt zu sein, meine Person, mein Auftreten und mein Tun zum Ausdruck kommen. Sie muss schließlich eine prägende Kraft in meinem Werdeprozess ausmachen, beseelt von dem Ziel, dass ich zunehmend ganz Mensch werde, mich zu der Person entfalte, die ich in den Augen Gottes werden soll. Wenn eine Spiritualität das »leistet«, ist sie eine gesunde, geerdete Spiritualität.
Trägt meine Spiritualität dagegen nicht dazu bei, dass ich ganz Mensch werde und sein kann, ja behindert und beeinträchtigt meine Spiritualität meine Menschwerdung beziehungsweise mein Menschsein, dann kann man auch, wie in unserem Gespräch in einem anderen Zusammenhang erwähnt, von Spiritual bypassing , sprich »spiritueller Abkürzung« sprechen. Dabei werden spirituelle Ideen und Praktiken dazu benutzt, um persönliche, emotional unverarbeitete Probleme zu umgehen oder grundsätzliche menschliche Bedürfnisse, Gefühle und Entwicklungsaufgaben zu verniedlichen - und das alles im Namen der Spiritualität. Die Unfähigkeit, sich dem eigenen persönlichen Entwicklungsprozess zu stellen, nicht bereit zu sein, ganz Mensch zu werden und zu sein, wird gleichsam heiliggesprochen, ja als Tugend herausgestellt (vgl.Welwood 2002, S. 207ff.).
ANSELM GRÜN: Jede Spiritualität, die spaltet, macht krank. Wenn ich die Spiritualität dazu benutze, mich mit frommen Gedanken und Gefühlen einzulullen, dabei aber der Wirklichkeit meiner Seele und meines Leibes ausweiche, dann bin ich immer in Gefahr, krank zu werden. Denn dann spalte ich mich zwischen meinen frommen und unfrommen, zwischen meinen spirituellen und gottlosen Anteilen.
Die Spiritualität, zu der uns die frühen Mönche einladen, geht einen anderen Weg. Sie sagt: »Alles in dir darf sein. Aber halte alles, was in dir auftaucht, Gott hin. Du brauchst nicht zu erschrecken vor dem, was in dir hochkommt, wenn du still wirst. Halte es Gott hin, damit Gottes Licht deine Dunkelheit durchdringt, dass Gottes Klarheit dein inneres Chaos ordnet und Gottes Frieden den Vulkan in deiner Seele beruhigt.«
Wenn ich von dieser Spiritualität spreche, dann fragen manche Zuhörer oft: »Ja, genügt es denn, mich einfach anzunehmen, wie ich bin? Brauche ich nicht mehr an mir zu arbeiten?« Die Frage ist berechtigt. Aber es geht nicht darum, die Hände in den Schoß zu legen. Christliche Spiritualität ist auch von Askese geprägt. Askese meint Training. Im Training übt man sich in neue Verhaltensweisen ein. Der christliche Grundsatz lautet: »Ich kann nur ändern, was ich angenommen habe.« Wir wollen ja wachsen, wir wollen uns wandeln. Aber verwandelt wird nur das, was ich in mir wahrnehme und Gott hinhalte. Was ich verdränge, wird weiterhin in mir rumoren.
WUNIBALD MÜLLER: Eine solche Spiritualität ist in alle Bereiche einbezogen, die unser Leben ausmachen. Sie begrenzt
Gottes Aktivität nicht auf die Sphäre des sogenannten Heiligen, was vorwiegend als Gebet, die Spendung der Sakramente oder andere kirchenbezogene Aktivitäten verstanden wird - so wichtig sie
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