Wer Blut vergießt
niemand da wäre, der sie dazu anhielt. Und wenn sie ihren Job verlieren sollte …
Obwohl die brennende Sonne schon im Westen versank, strahlte der Asphalt noch eine Hitze ab, von der ihm ganz schwindelig wurde, und er wankte ein wenig. Er hatte schlecht geschlafen, und gegessen hatte er auch nicht viel.
Und obwohl er nicht mehr in die Bibliothek ging, um die Bücher über Crystal Palace zu lesen, hatte er wieder diesen Feuertraum. Manchmal wachte er im Dunkeln auf und war sich ganz sicher, dass er das Knistern der Flammen hörte. Und erst letzte Nacht, als die Unruhe ihn aus seinem stickigen Zimmer vertrieben hatte, war er nach unten gegangen und hatte seine Mutter schlafend auf dem Sofa gefunden, mit einer brennenden Zigarette in der Hand. Wieder einmal.
Seit es zum ersten Mal passiert war, versteckte er die Zigaretten vor ihr, wann immer er konnte, aber das machte sie nur wütend. Eines Abends hatte sie ihn sogar geschlagen. Als sie am nächsten Morgen leise vor sich hin grummelnd zuerst ihre Taschen nach der Zigarettenschachtel und dann die Aschenbecher nach Kippen absuchte, hatte sie ganz offensichtlich keine Erinnerung mehr an das, was sie getan hatte. Andy war sich nicht sicher gewesen, ob er sich freuen oder entsetzt sein sollte.
Während er die Woodland Road hinunterging, sah er Nadine vor ihrer Haustür sitzen. Er winkte, aber sie schien ihn nicht zu sehen. Als er näher kam, sah er, dass sie wieder ein weißes Kleid trug, diesmal mit mohnroten Farbklecksen. Sie war auch geschminkt, und mit dem grellroten Lippenstift sah sie ganz fremd aus. Und sie trank.
Sie hielt ein Glas Rotwein in der Hand, und neben ihr auf der Treppenstufe stand eine halb leere Flasche. Er stellte fest, dass ihre Geranien welk aussahen, die Blätter waren schon ganz gelb.
»Schau mal, das sind Tränen«, sagte sie, als er bei ihr ankam. Sie hielt das Glas hoch und neigte es, sodass die Flüssigkeit zähe Schlieren an der Innenseite bildete. Ihre Beine waren braun, und trotz Kleid und Make-up trug sie weder Strümpfe noch Schuhe.
Stirnrunzelnd sah er auf sie herab. »Was tun Sie da?«
»Ich feiere. Meinen Hoch-zeits-tag.« Sie schien ein bisschen Mühe mit der Aussprache zu haben. »Weiß und Rot.« Sie neigte das Glas noch mehr und ließ etwas von dem Wein auf die Stufe tropfen, dann tauchte sie ihren Finger hinein. »Rot wie Blut. Wir hatten uns darüber gestritten, wo wir an unserem Hochz…, na, du weißt schon – wo wir hinfahren sollten.« Sie lächelte, doch als sie zu ihm aufblickte, waren ihre Augen erschreckend leer. Sie sprach undeutlich und mit belegter Stimme.
Andy wurde ganz elend zumute. »Nadine, Sie sollten nicht hier draußen sitzen.«
»Und wo sollte ich sonst sein, Andy, mein Schatz?« Sie nahm noch einen Schluck Wein. »Keine Party, zu der ich gehen könnte. Kein Tanz. Das war es, was Marshall wollte, hast du das gewusst? Er wollte mit mir Champagner trinken und tanzen gehen. Ich sagte, das wäre zu teuer. Er sagte, ich sei eine blöde Kuh und wüsste nicht, wie man sich amüsiert. So who’s sorry now , hm?«, trällerte sie und wiegte sich dazu hin und her.
Andy musste sich beherrschen, um sich nicht die Ohren zuzuhalten. Er wollte das nicht hören. Wollte es nicht wissen. Er wollte nicht daran denken, wie Nadine mit ihrem Mann gestritten hatte. Wie sie mit ihrem Mann zusammen gewesen war. Wie sie sich für ihn zurechtmachte, obwohl er tot war.
Und er wollte nicht, dass sie sich anhörte wie eine Fremde. Oder wie jemand, den er nur allzu gut kannte.
»Hören Sie auf damit«, sagte er. »Hören Sie auf. Sie sind genau wie meine Mum.«
»Weißt du, da könntest du sogar recht haben«, sagte Nadine gedehnt. Sie sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf und ließ noch mehr Wein aus der Flasche in ihr Glas gluckern, wobei einige Tropfen auf ihrem Kleid landeten. »Ich bin sicher, sie hat ihre Gründe. Und ich habe nie behauptet, ich wäre vollkommen. Ich habe dir nie irgendetwas versprochen, oder, Andy?«
Er schämte sich plötzlich so, dass die Tränen in seinen Augen brannten und ihn blendeten. Er hatte geglaubt, er sei etwas Besonderes. Er hatte geglaubt, dass er ihr etwas bedeutete.
Die Wut packte ihn, so heftig, dass ihm schwarz vor Augen wurde und er am ganzen Leib zitterte. »Nein!«, schrie er sie an. »Nein, das haben Sie weiß Gott nicht.«
Er drehte sich um, stürmte ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
Das Licht begann zu schwinden, während Andy zusammengekauert an der
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