Wer Blut vergießt
sicher, ob er den Vertrag mit Caleb unterschreiben will. Ich hab ihm gesagt, er hätte wohl völlig den Verstand verloren, aber ich komme einfach nicht an ihn ran.«
Crystal Palace, dachte Kincaid. Das war der gemeinsame Nenner. Der erste Mord hatte sich dort ereignet. Andy Monahan war dort aufgewachsen. Andy war dem zweiten Opfer dort begegnet. »Tam, weißt du irgendetwas über Andys Vorgeschichte? Du sagtest, er habe keine Familie mehr gehabt, als du ihn kennengelernt hast, und er sei noch nicht lange mit der Schule fertig gewesen. Hat er je über seine Kindheit gesprochen? Oder darüber, was aus seiner Familie geworden ist?«
»Nein. So gut wie nichts. Aber …« Tam schien zu zögern. »Aus der einen oder anderen Bemerkung, die er im Lauf der Jahre hat fallen lassen, habe ich den Eindruck gewonnen, dass seine Mutter öfters zu tief ins Glas geschaut hat. Er reagiert immer ziemlich heftig, wenn einer von den anderen Jungs – oder manchmal auch einer von den Gästen – zu viel getankt hat.«
Kincaid war sich sicher, dass das noch nicht alles war. »Und?«
»Und … es kann sein, dass ich das Caleb gegenüber erwähnt habe … Also, ich habe nicht behauptet, der Junge wäre Abstinenzler, das nicht; nur, dass er sich in der Hinsicht sehr zurückhält. Ich wollte, dass Caleb einen guten Eindruck von ihm bekommt, weil Caleb ja …«
»Ein trockener Alkoholiker ist.«
»Das hat er dir erzählt?«
»Er macht kein Geheimnis daraus. Ich glaube, das gehört zum Programm der Anonymen Alkoholiker. Du hast dir also gedacht, das könnte etwas Verbindendes zwischen Caleb und Andy sein. Das ist ja auch völlig in Ordnung. Hat Andy dir je erzählt, dass er in Crystal Palace aufgewachsen ist?«
»Was? Nein. Nein, das hat er nie erwähnt.« Tam klang überrascht und ein wenig gekränkt. »Als ich ihn kennengelernt habe, hat er im Zentrum und im East End bei Freunden auf dem Sofa gepennt. Erst nachdem ich ihm die ersten Engagements als Sessionmusiker verschafft hatte, konnte er sich eine eigene Wohnung leisten. Ich bin einfach davon ausgegangen …«
Kincaid hatte allmählich den Verdacht, dass es bei Andy Monahan nicht ratsam war, von irgendetwas auszugehen. »Daher kannte er das zweite Opfer. Aus seiner Zeit in Crystal Palace.«
»Aber als Caleb dieses Pub ausgesucht hat, da hat Andy mit keinem Wort erwähnt …« Tam war so lange still, dass Kincaid ins Wohnzimmer ging, um nach Charlotte zu sehen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, flankiert von den beiden Hunden, die ihre Köpfe auf ihren Schoß gebettet hatten, und schien ganz zufrieden mit ihrer verlängerten Fernsehzeit.
»Duncan«, sagte Tam schließlich, »ich weiß nicht, was ich denken soll, aber ich weiß, dass er ein guter Junge ist, und ich will nicht, dass er irgendwie zu Schaden kommt, ganz unabhängig von dieser Sache mit Caleb und dem Video. Ich habe es früher schon erlebt, wie schnell der Traum vom Starruhm platzen kann wie eine Seifenblase, und ich werde es wieder erleben. Es ist ein schöner Traum, aber mein Leben wird so oder so weitergehen, und im Großen und Ganzen läuft’s ja gar nicht so schlecht. Aber Andy … Ich fürchte, der Junge steckt in echten Schwierigkeiten, und ich glaube nicht, dass er sich mir anvertrauen wird. Denkst du, dass er vielleicht mit dir reden würde?«
Gegen Abend erst stellte Andy fest, dass keine Milch mehr im Haus war. Wenn es irgendetwas gab, was seine Mutter noch mürrischer machte, als sie ohnehin schon war, dann war es ein Morgentee ohne Milch. Sie sagte, mit Milch würde ihr der Tee nicht so auf den Magen schlagen, und das glaubte er gerne, bei den Mengen an billigem Gin, die sie abends in sich hineinschüttete.
In den letzten Wochen hatte sich ihr Zustand verschlechtert – die Hitze schlage ihr aufs Gemüt, sagte sie. Und was das betraf, bestand wenig Hoffnung auf baldige Linderung. Nach wie vor war der wolkenlose Himmel wie ausgebleicht, und das gelegentliche drohende Donnergrollen in der Ferne blieb ein leeres Versprechen.
Aber irgendwann würde das Wetter ja wohl umschlagen, dachte Andy, als er mit der Halbliterflasche Milch, die er mit den letzten Pennys des Haushaltsgelds für diese Woche gekauft hatte, vom Laden nach Hause trottete. Das Schuljahr würde bald beginnen, und bei diesem Gedanken krampften sich seine Finger um die schwitzende Flasche. So viel, wie seine Mum trank, konnte er sich nicht vorstellen, dass sie morgens aus dem Bett kommen und zur Arbeit ins Pub gehen würde, wenn
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