Wer Blut vergießt
manövriert.« Er sah sie mit stechenden blauen Augen an, die von kleinen Fältchen umringt waren. »Aber nicht so schlimm, dass irgendjemand hier ihn deswegen um die Ecke gebracht hätte.«
»Hatte Amanda es seinetwegen schwer in der Kanzlei?«
»Es war sicherlich nicht leicht für sie, wenn er sich nicht hinreichend auf einen Prozess vorbereitet hatte. Sie fürchtete wohl, dass es ein schlechtes Licht auf sie werfen könnte.«
»Und wenn es zu dem Punkt gekommen wäre, wo Sie Shaun hätten sagen müssen, dass er anderswo besser aufgehoben wäre, wäre Amanda dann auch gegangen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Aber Sie sind sehr erleichtert, dass Sie es nicht darauf ankommen lassen mussten?«
»Das ist nicht gegen das Gesetz, Detective Sergeant«, sagte Spencer. Obwohl von einem Lächeln begleitet war seine Bemerkung ein verbaler Schlussstrich, doch Melody wollte sich nicht so schnell abwimmeln lassen.
»Mr Spencer, wissen Sie, ob Shaun einen Prozessanwalt namens Vincent Arnott gekannt hat?« Sie nannte den Namen von Arnotts Kanzlei, die ihren Sitz im nahen Inner Temple hatte.
»Denkbar ist es. Es ist eine recht kleine Welt, wissen Sie?« Seine Geste schien sämtliche Anwaltskanzleien der Inns of Court zu umfassen. »Vincent und ich hatten uns im Lauf der Jahre immer mal wieder vor Gericht gegenübergestanden, und natürlich sieht man sich in den Pubs und Weinbars.«
»Sie wussten also von Arnotts Tod?«
»Die Spekulationen in den Zeitungen waren ja nicht zu übersehen. Und nein, ich werde Sie nicht fragen, ob es stimmt«, fügte er hinzu, da er offenbar erkannt hatte, dass Melody zu einem Dementi ansetzte. »Ich weiß, dass es Ihnen nicht freisteht, darüber zu sprechen, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich es wissen möchte.«
»Würden Sie sagen, dass Sie mit Arnott befreundet waren?«
Spencer dachte nach, und Melody bezweifelte, dass er je eine Frage von einiger Tragweite beantwortete, ohne zuvor das Für und Wider abgewogen zu haben. »Ich würde nicht sagen, dass Vincent Freunde hatte«, antwortete er nach einer Weile. »Er konnte natürlich ein zäher Prozessgegner sein, aber er neigte auch dazu, die Dinge außerhalb des Gerichtssaals auszutragen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Melody.
»Oh, so etwas erleben Sie doch sicher auch in Ihrem Beruf, Sergeant. Er nahm seine Fälle immer persönlich, ob als Ankläger oder als Verteidiger. Und mehr noch – wenn er im Gerichtssaal den Kürzeren zog, verzieh er einem das nicht so schnell.«
Nach allem, was Melody über Vincent Arnott erfahren hatte, wunderte sie das kaum. »Aber Sie wissen nicht, ob es irgendeine direkte Verbindung zwischen ihm und Shaun Francis gab?«
»Nein. Sie können natürlich unseren Sekretär bitten, unsere Akten durchzusehen, aber wenn Shaun Arnott je vor Gericht gegenübergestanden hätte, dann wüsste Amanda sicherlich davon.« Spencers stechende blaue Augen taxierten sie. »Aber Sie können nicht glauben, dass Arnott etwas mit Shauns Tod zu tun hatte, da Arnott ja bereits tot war. Und wenn Shaun etwas mit Arnotts Tod zu tun hatte, wer soll ihn dann umgebracht haben?«
Wäre es umgekehrt gewesen, dachte Melody, als sie die Kanzlei verließ und durch das Gewirr enger Gassen zur Fleet Street zurückging, dann hätten sie einen blitzsauberen Fall konstruieren können. Wenn Shaun zuerst ermordet worden wäre, dann könnte Amanda Francis Arnott im White Stag gezielt angesprochen haben, um ihn aus Rache für den Tod ihres Bruders zu ermorden. Aber bei diesem hypothetischen Szenario stellte sich die Frage, warum Arnott Shaun hätte umbringen sollen. Bislang hatten sie noch keine Verbindung zwischen Vincent Arnott und Shaun Francis entdecken können. Und Melody wusste, dass sie sich nur mit müßigen Spekulationen das Hirn verrenkte, um sich von den quälenden Gedanken an Andy abzulenken, die ihr keine Ruhe ließen.
Sie hatte die letzten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, sich zu fragen, ob diese Nacht das Beste war, was ihr je widerfahren war, oder der größte Fehler ihres Lebens. Und am Abend hatte sie allein in ihrer Wohnung auf dem Sofa gehockt, mit dem Finger über dem Tastenfeld ihres Telefons, und hatte hin und her überlegt, ob sie Andy oder Doug anrufen oder ansimsen sollte.
Am Ende hatte sie nichts von allem getan. Sie wusste nicht, was sie Andy sagen sollte, um es wiedergutzumachen, und wenn sie ihn kontaktierte, würde sie eine ausdrückliche Anweisung von Gemma missachten.
Was Doug betraf,
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