Wer Blut vergießt
noch das andere. Nicht, seit ich gehört habe …« Er schielte kurz zu Kincaid herüber und sah gleich wieder weg. »Ich nehme an, Sie wissen das mit Melody.«
»Ich weiß, dass Melody Sie am Sonntagabend befragt hat und dass sie mit Ihnen zusammen war, während jemand Shaun Francis in seinem Stammlokal unter Drogen gesetzt und ihn in seine Wohnung gebracht hat, wo er ihn dann auszog, fesselte und erdrosselte.«
»O Gott.« Andy sah aus, als müsse er sich übergeben.
»Ich weiß auch, dass Melody gestern mit Nick, Ihrem Bassisten, gesprochen hat und dass Melody weiß, dass Sie sie angelogen haben, was die Schlägerei im Pub betrifft.« Kincaid deutete mit einem Nicken auf Andys Hand. »Wollen Sie vielleicht damit anfangen?«
Andy lachte erstickt auf. »Damit anfangen, das geht nun wirklich nicht.« Er schob die Hände in die Manteltaschen. Einen Moment lang starrte er auf die ruhige Straße hinunter, dann ließ er die Schultern herabsacken. »Ich bin es leid. Ich habe diese Geheimniskrämerei so satt. Was am Freitagabend passiert ist, das war das Ende, nicht der Anfang. Angefangen hat es an einem heißen Augusttag, als ich dreizehn Jahre alt war.«
Als Andy seine Erzählung beendet hatte, schwieg Kincaid eine Weile erschüttert. Er dachte an Kit, der in seinem jungen Leben schon so viel durchgemacht hatte, der aber immerhin Menschen gehabt hatte, denen er sich anvertrauen konnte und die sich um ihn sorgten. Schließlich fragte er leise: »Und Sie haben nie mit Ihrer Mutter über diese Dinge gesprochen?«
Andy schüttelte den Kopf. »Sie hatte schon genug, womit sie fertigwerden musste.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie starb, als ich sechzehn war. Ihre Leber hat versagt – so hieß es jedenfalls, aber ich habe immer gedacht, dass sie einfach keinen Grund sah weiterzuleben.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Die Nonnen an meiner Schule haben mir eine Unterkunft verschafft, damit ich das Schuljahr noch abschließen konnte. Zu der Zeit habe ich schon Gigs gespielt. Ein paar von den älteren Musikern in Crystal Palace haben mir Jobs vermittelt und mich auf ihren Sofas schlafen lassen. Dann habe ich Nick und George in einem Club kennengelernt, und wir haben unsere Band gegründet. Sie haben beide noch bei ihren Eltern gewohnt, und die haben mich bei sich übernachten lassen, wenn ich nichts anderes gefunden habe. Dann habe ich Tam kennengelernt, und er hat mir so viel Sessionarbeit verschafft, dass ich damit über die Runden kam. Und irgendwann habe ich dann die Wohnung in Hanway Place bekommen.« Er seufzte. »Ich habe Nick und George viel zu verdanken. Und Tam auch. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal zwischen den beiden und ihm entscheiden müsste.«
»Und die Jungen, Shaun und Joe? Die haben Sie nie wiedergesehen?«
»Nicht bis Freitagabend. Aber ich habe Melody nicht angelogen. Es war nicht Shaun. Es war Joe . Ich habe ihn zuerst gar nicht erkannt, als er im White Stag auf mich zukam. Ich dachte wirklich, das ist nur irgendein Betrunkener, bis er mich dann gefragt hat, ob ich mich an die alten Zeiten erinnere. Er wollte …« Andys Stimme klang gepresst. »Er wollte wissen, warum wir nicht Freunde sein könnten.«
»Und da haben Sie ihn geschlagen.«
»Ich bin einfach ausgerastet. Mir ist die Hand ausgerutscht. Aber davon ging’s mir hinterher auch nicht besser.« Er zog die Hände aus den Taschen und rieb sich wieder die Knöchel. »Mir dafür die Zupfhand kaputtzumachen, das war’s wirklich nicht wert. Aber Shaun, du lieber Gott. Ich dachte immer, für den wäre keine Strafe schlimm genug, aber – Als Melody mir erzählt hat, dass Shaun tot ist, genau wie dieser andere Typ, da dachte ich, jetzt bin ich vollkommen verrückt geworden. Erst taucht nach all den Jahren Joe auf, und dann soll Shaun tot sein.« Mit einem Seitenblick auf Kincaid fügte er hinzu: »Wissen Sie, ich mache Melody ja keine Vorwürfe, weil sie zu ihrer Chefin gegangen ist. Zu Ihrer Gemma.« Er zog die Stirn in Falten, als könne er das immer noch nicht ganz fassen. »Aber ich kann sie ja schlecht anrufen und einfach sagen: ›Oh, tut mir leid.‹«
»Besser nicht, jedenfalls im Moment«, stimmte Kincaid ihm zu. »Was ist mit Nadine? Haben Sie sie auch nicht mehr gesehen?«
Andy fröstelte und hüllte sich enger in seinen Mantel. »Jetzt werden Sie denken, dass ich total den Verstand verloren habe. Ich habe sie wirklich bis Freitagabend nicht mehr gesehen, obwohl ich jahrelang überall, wo ich hingekommen bin,
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