Wer Blut vergießt
sicher.«
»Wussten Sie von der Krankheit seiner Frau, Mr Kershaw?«
»Nun ja, wir hatten alle schon länger etwas Derartiges vermutet. Nicht, dass er je darüber gesprochen hätte. Vincent hat Mitgefühl und gute Ratschläge eher abgeblockt.«
Gemma fiel auf, dass Kershaw auf die Nachricht zwar geschockt reagiert hatte, aber nicht erkennen ließ, dass er um den Verstorbenen trauerte. »Sie haben Mr Arnott nicht gemocht, oder?«
»Nein«, antwortete Kershaw mit bedauerndem Unterton. »Ich würde sagen, er war kein besonders sympathischer Mensch. Aber er war ein guter Prozessanwalt, und zum Job eines Kanzleisekretärs gehört es auch, die Anwälte der Kanzlei mit den richtigen Mandanten zusammenzubringen. Ich habe Vincent nie einem Mandanten vermittelt, der seelischen Beistand nötig gehabt hätte. Er war eigentlich viel besser als Anklagevertreter.«
»Nach allem, was ich gehört habe, hat er sich sehr rührend um seine Frau gekümmert.«
»Mrs Arnott war eine nette Frau. Hat den Mitarbeitern zu Weihnachten immer kleine Geschenke gemacht und ihnen zum Geburtstag geschrieben. Ich habe nie verstanden, was sie an ihm gefunden hat.« Er blieb stehen, die Hände in den Taschen seines Anoraks, und blickte auf den Fluss hinaus, der in der Spätnachmittagssonne glitzerte. »Ich sollte wohl nicht von ihr in der Vergangenheit sprechen, als ob sie es wäre, die gestorben ist. Aber es ist schon ein paar Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen habe. Das letzte Mal, als Vincent sie zu einer Feier in der Kanzlei mitgenommen hat, war sie schon sichtlich angegriffen.«
»Mr Kershaw, wissen Sie, ob Vincent Arnott angefangen hat, sich mit anderen Frauen zu treffen, nachdem seine Frau erkrankt war?«
Kershaw sah sie durchdringend an. »Vincent traf sich schon seit Jahren mit anderen Frauen. Nicht, dass er eine Geliebte gehabt hätte – davon weiß ich jedenfalls nichts –, aber er hatte einen guten Blick, wenn es darum ging, einsame Frauen in Weinbars anzusprechen.«
»Prostituierte?«
»Das glaube ich eher nicht. Dafür war er ein bisschen zu anspruchsvoll. Aber ich würde sagen, dass er durchaus ein Experte für One-Night-Stands war.« Er runzelte die Stirn und fuhr fort: »Hat das irgendetwas mit seinem Tod zu tun? Sie haben mir noch gar nicht gesagt, was ihm zugestoßen ist, aber da Sie Ermittlungen anstellen, nehme ich an, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Er wurde am Samstagmorgen in einem Hotel in Crystal Palace gefunden, und es gibt in der Tat Hinweise auf ein Verbrechen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er am Abend zuvor zusammen mit einer Frau ein Lokal verlassen haben könnte. Haben Sie je Anzeichen dafür beobachtet, dass Mr Arnott auf … ungewöhnliche Sexpraktiken stand?«
»Vincent?« Kershaw sah sie verblüfft an. »Ungewöhnliche Sexpraktiken? Man hätte schwerlich einen Mann finden können, der konservativer war als Vincent.« Er ging weiter, und Gemma war froh, sich bewegen zu können. Sie hatte ihre Jacke bis obenhin zugeknöpft und wie Kershaw ihre vor Kälte gefühllosen Hände in die Taschen gesteckt. »Aber andererseits«, fuhr Kershaw nachdenklich fort, »hatte ich immer den Eindruck, dass er Frauen gar nicht mochte.«
»Sie meinen, er bevorzugte Männer?«, fragte Gemma und befürchtete schon, sie habe die ganze Situation komplett missverstanden.
»Nein, ich meine, dass er Frauen nicht mochte . Ich sagte doch, dass ich immer versucht habe, ihm keine Fälle zuzuweisen, bei denen seelischer Beistand gefragt war; das hatte auch damit zu tun. Ich habe schon vor Jahren erkannt, dass er sich nie wirklich Mühe gab, eine Frau zu verteidigen. Es war, als ob er sie automatisch für schuldig hielt.«
Gemma verabschiedete sich von Tom Kershaw, nachdem er ihr versprochen hatte, Diskretion zu wahren und ihr gleich am nächsten Morgen die Kontaktdaten und Dienstpläne der anderen Mitarbeiter von Arnotts Kanzlei zukommen zu lassen.
Der Nachmittag ging bereits in die frühe winterliche Abenddämmerung über, als sie in ihren Wagen stieg, froh um das bisschen Restwärme aus dem Gebläse. Als Erstes warf sie einen Blick auf ihr Handy – keine Nachrichten vom Team oder von Kincaid.
Sie blieb einen Moment sitzen und überlegte. Dann startete sie den Motor und fuhr, einem Impuls folgend, in westlicher Richtung los. Bald schon bog sie in die Falcon Road ein und dann in die kleine Seitenstraße mit dem Betonklotz der Moschee an der Ecke. Die Sozialwohnungen am anderen Ende der Straße und
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