Wer Blut vergießt
praktischerweise auf dem Weg von Kennington nach Brixton lag. Aber es würde ihr schon irgendetwas einfallen.
Je mehr sie sich Hanway Place näherte, desto alberner kam Melody sich vor. Sie hätte die SMS beantworten sollen, anstatt einfach loszufahren wie ein Lemming, der blindlings auf den Abgrund zurennt. Würde er nicht denken, dass sie nichts Besseres zu tun hatte, als bei ihm anzutanzen, sobald er auch nur mit dem Finger schnippte?
Was natürlich genau das war, was sie im Moment tat, aber sie hatte sich nun einmal entschieden, und jetzt würde sie keinen Rückzieher mehr machen.
Es war dunkel, als sie in die schmale Straße einbog und ihren Wagen abstellte. Sie zögerte noch einen Moment, ehe sie ausstieg und bei Andy klingelte. Während sie in dem schummrigen Hauseingang stand, stürmten die Erinnerungen der vergangenen Nacht auf sie ein. Als die Tür sich mit einem Klicken entriegelte, wurden ihre Knie so weich, dass sie sich fragte, wie sie die Treppe hinaufkommen sollte.
Er wartete in der offenen Wohnungstür auf sie, genau wie beim letzten Mal, aber diesmal strahlte er vor unverhohlener Freude übers ganze Gesicht. »Find ich echt toll, dass du gekommen bist«, sagte er, während er sie auf die Wange küsste und ihr aus dem Mantel half.
»Es lag sowieso an meinem Weg.« Melody schüttelte den Kopf und sagte dann: »Nein, das stimmt nicht. Ich wollte kommen.« Sie spürte immer noch den Abdruck seiner Lippen auf ihrer Wange, und das Atmen fiel ihr schwer. »Aber ich wollte dir sagen – Hör zu, Andy, wegen letzter Nacht … Du sollst nicht denken, dass ich normalerweise – schon beim ersten Date …« Sie stand immer noch unbeholfen in der Mitte des Zimmers und wünschte, sie könnte sich ganz klein machen, wie Alice im Wunderland.
»Ach, das war ein Date?« Er zog eine Augenbraue hoch, und sie kam sich vor wie die letzte Idiotin. Dann berührte er sanft ihre Wange. »Ich mache das normalerweise auch nicht«, sagte er leise und sah ihr in die Augen. »Hast du etwa geglaubt, ich gehe mit jeder Frau ins Bett, die ich ins 12 Bar mitnehme?«
»Na ja, du weißt schon – berühmter Rockstar und so«, frotzelte sie zurück. Sie würde nicht zugeben, dass sie genau das von ihm gedacht hatte.
»Allerdings muss ich vielleicht meine Strategie ändern.« Er packte ihre Hand und führte sie zum Futon, der jetzt wieder zum Sofa umfunktioniert war. Die zerknitterten Laken waren fein säuberlich zusammengefaltet. Er schien ihr Unbehagen gar nicht zu bemerken, als er sie neben sich auf den Futon zog. »Sieh dir das an.« Sein Laptop stand aufgeklappt auf dem Couchtisch. Er führte den Mauszeiger über den Abspielpfeil des Videos, das auf dem Monitor geöffnet war, und klickte darauf.
Melody sah gebannt zu. Der Clip zeigte Andy und Poppy am Samstag im Proberaum, wie sie »Diamonds on the Soles
of her Shoes« spielten. Nach einem Schnitt sah man die beiden im Aufnahmestudio; sie trugen Kopfhörer und sangen dicht nebeneinander in zwei Mikrofone. Schnitt, und man sah Andy über der Hauptmelodie ein regelrechtes Gänsehaut-Riff spielen. Kameraführung und Schnitttechnik wirkten professionell, und doch fing das Video die schiere Freude am Musizieren und die Magie des Augenblicks ein, die Melody miterlebt hatte. Wieder ein Schnitt, wieder sah man sie im Proberaum, doch das Licht war anders, und Andy und Poppy trugen andere Kleider. Das muss gestern gewesen sein, dachte sie, und man konnte sehen, dass sein Stil und ihrer bereits nach einem Tag zu etwas noch Einzigartigerem und Ansteckenderem verschmolzen waren. Poppy unterlegte ihre Leadstimme, die sich mühelos in große Höhen schwang, mit einem stampfenden Bass, während Andy die zweite Stimme sang. Sie endeten synchron auf dem letzten Schlag, brachen in Gelächter aus, und dann wurde der Bildschirm dunkel.
»Oh«, hauchte Melody. »Das war fantastisch. Einfach genial. Wie …«
»Es war Caleb. Er hat es gestern Abend hochgeladen, nur um zu sehen, wie die Reaktionen sind. Es ist irre gut angekommen.«
Melody sah wieder auf den Bildschirm. »So viele positive Bewertungen? An einem Tag? O Mann. Das ist nicht bloß irre. Das ist … das ist … viral. «
»Es war doch nur ein Job«, sagte er, und er klang verblüfft. »Ich hätte nie gedacht … Tam und Caleb sitzen schon den ganzen Tag über Verträgen und Vereinbarungen. Und Poppy scheint das alles wie selbstverständlich hinzunehmen.«
»Und du?«
Er nahm ihre Hand und rieb mit dem Daumen über ihre Knöchel.
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