Wer Blut vergießt
ebenfalls im Flüsterton.
»Sie müssen meine Mutter entschuldigen«, sagte Amanda Francis, während sie mit raschen Schritten um die Ecke in die Court Lane einbog, die Straße, die zum Zentrum von Dulwich Village führte.
»Es muss sehr schwer für sie sein«, sagte Gemma diplomatisch, nachdem sie dankbar die kalte, frische Luft in ihre Lunge gesogen hatte.
»Mummy spricht ein bisschen zu gerne dem Sherry zu, auch unter den besten … Umständen.« Beim letzten Wort musste Amanda ein Schluchzen unterdrücken. »Und im Moment könnten die Umstände wohl kaum schlechter sein.«
»Was hat Ihre Mutter gemeint, als sie sagte, Ihr Bruder wollte ›alles wieder hereinholen‹?«, fragte Gemma.
»Ich zeig’s Ihnen.« Amanda ging sehr schnell, und Gemma stellte fest, dass die füllige Figur der jungen Frau darüber hinwegtäuschte, wie durchtrainiert und fit sie tatsächlich war. »Sie hat gesagt, mein Vater sei Investor gewesen. Da denkt man gleich an Aktien und Rentenfonds und andere höchst vernünftige Geldanlagen, nicht wahr?« Sie marschierte voraus, und der Wind trug ihren verächtlichen Tonfall an Gemmas Ohr. »Aber so war es nicht. Mein Vater ist immer der neuesten todsicheren Sache nachgelaufen. Er hat bei der Dotcom-Blase Mitte der Neunzigerjahre mitgemischt und Millionen gemacht.«
Sie waren im Zentrum angelangt, und Amanda verlangsamte ihren Schritt, sodass Gemma zu ihr aufschließen konnte. Die kleine Ladenzeile mit Cafés und Geschäften strahlte Geschmack und Charme aus – mit einer Auswahl von Dingen, die eine gut betuchte Klientel als unentbehrlich betrachten mochte. Die Wegweiser an den Kreuzungen waren aus Holz und trugen zur Illusion eines Dorfes bei, das mitten in den Speckgürtel der Metropole verpflanzt worden war.
Gemma folgte Amanda neugierig, als sie das »Dorfzentrum« hinter sich ließen und erneut in eine Wohnstraße einbogen. Doch hier waren die Häuser stattliche Villen, viele halb verborgen hinter hohen immergrünen Hecken, die meisten von üppigem wintergrünem Rasen umgeben.
Amanda blieb vor einem besonders eindrucksvollen Exemplar stehen, dessen glänzend weiße Stuckfassade von zahlreichen Giebeln mit dunklen Schindeln gekrönt war. »Hier sind wir aufgewachsen«, sagte Amanda. »Bis die Blase platzte. Zum Glück hatte Vater eine Lebensversicherung, die uns vor dem völligen Absturz bewahrte, aber Mutter hat sich nie auch nur eine Sekunde damit abfinden wollen, dass wir nun in, wie sie es ausdrückt, ›beschränkten Verhältnissen‹ leben müssen.«
»Was ist mit Ihrem Vater passiert?«, fragte Gemma.
»Er hat seinen Wagen gegen einen Brückenpfeiler gefahren. Es gab Hinweise darauf, dass er in letzter Sekunde zu bremsen versuchte, also hat die Versicherung letztlich gezahlt. Man ging davon aus, dass er am Steuer eingeschlafen war.«
»Sie glauben das nicht?«
»Wir werden es nie erfahren, oder?« Amanda zuckte mit den Achseln, als ob es nicht weiter wichtig wäre. »Die Versicherungssumme zusammen mit dem Erlös aus dem Hausverkauf reichte aus, um seine Gläubiger ausbezahlen und Shauns Studium finanzieren zu können, und Mummy konnte auch einen Lebensstil beibehalten, den die meisten Menschen als ziemlich komfortabel bezeichnen würden.«
»Hat Shaun Ihrer Mutter tatsächlich versprochen, dass er alles für sie zurückgewinnen würde?«
»Nein. Das ist nur eine ihrer Wunschvorstellungen. Shaun hat jeden Penny, den er verdiente – und mehr –, für seine Wohnung und für Klamotten ausgegeben, und für … seine Vergnügungen.«
»Vergnügungen?«
»Nun ja, zum Beispiel immer auswärts zu essen. Gute Weine. Mitgliedschaft im besten Squash-und-Racquetball-Club der Stadt. Für Shaun musste es immer und überall nur das Beste sein.«
»Amanda …« Gemma zögerte. Es gab keine einfache Art, diese Frage zu stellen. »Amanda, wissen Sie, ob Ihr Bruder irgendwelchen … ungewöhnlichen … Sexpraktiken gefrönt hat?«
»Sie meinen – so wie das, was ich gesehen habe?« Amanda wandte sich vom Haus ab und begann langsam in Richtung des Zentrums zurückzugehen, die Schultern hochgezogen. »Nicht dass ich wüsste. Aber warum hätte er es mir erzählen sollen? Ich weiß, dass er mit Frauen ausgegangen ist, aber ich glaube nicht, dass er sie sonderlich gemocht hat. Wer könnte es ihm verdenken, bei einem Vorbild wie unserer Mutter? Aber wenn er auf … SM und so was gestanden hätte, dann würde ich vermuten, dass Shaun derjenige war, der seine Partner fesselte. Und
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