Wer Blut vergießt
über seine dunkelblauen Augen. »Aber ich kann nicht glauben, dass er tot ist. Bist du wirklich sicher?«
»Wir waren gerade bei seiner Mutter in Dulwich. Und es war seine Schwester, die ihn gefunden hat.«
»Seine Schwester? Ich wusste gar nicht, dass er eine Schwester hat.« Andy musste in Melodys Miene Zweifel gelesen haben, denn er fügte hinzu: »Wir waren nicht befreundet. Ich wusste eigentlich so gut wie gar nichts über ihn, außer dass er offenbar einen unerschöpflichen Vorrat an Bargeld hatte und kommen und gehen konnte, wie es ihm gerade passte.«
»Ich würde sagen, er war ein Mamakind von der übelsten Sorte. Keinerlei Grenzen.«
Andy nickte. »Das passt.«
»Und seine Schwester – die beiden scheinen eine sehr … intensive Beziehung gehabt zu haben.«
»Intensiv?«
»Die Familiendynamik war anscheinend mehr als nur ein bisschen gestört. Hältst du es für möglich, dass er sie missbraucht hat?«
»Du glaubst doch nicht, dass seine Schwester etwas mit seinem Tod zu tun hatte?« Andy sah sie entsetzt an. »Du hast gesagt, er sei gefesselt und erdrosselt worden. Du kannst doch nicht glauben, dass eine Frau das getan hat.«
»Möglich ist es. Und wir glauben, dass Vincent Arnott das White Stag zusammen mit einer Frau verlassen hat.«
»Aber – du hast doch gesagt, Shaun sei in seiner Wohnung gefunden worden, nicht in irgendeiner billigen Absteige wie dem Belvedere.«
»Er war gestern Abend im Pub, gleich gegenüber von seiner Wohnung auf der anderen Seite des Platzes. Wie bei Arnott war es sein Stammlokal. Das Prince o f Wales am Cleaver Square. Wir wissen noch nicht, ob jemand ihn beim Verlassen des Pubs gesehen hat.«
»Cleaver Square. Da hat er es ja weit gebracht«, bemerkte Andy mit einem Anflug von Verbitterung in der Stimme, den Melody bisher nicht wahrgenommen hatte. Er stand auf, ging zu einer der Gitarren auf den Ständern – der »Hummingbird« mit dem Kolibri drauf, auf der er erst gestern Abend für sie gespielt hatte – und fuhr mit den Fingern über die Spitze der Kopfplatte. Sie spürte die physische Distanz, die er zwischen ihnen hergestellt hatte, wie eine Kluft. »Und auch noch als Rechtsanwalt«, fügte er hinzu, ohne sie anzusehen. »Haben sie sich gekannt, Shaun und der andere Typ?«
»Arnott? Das wissen wir noch nicht.« Melody rieb sich die Hände, die plötzlich kalt waren. »Andy, ich werde meiner Vorgesetzten sagen müssen, dass du Shaun gekannt hast.«
»Wieso?« Er drehte sich zu ihr um, und seine Miene war feindselig. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Und ich dachte, das würde unter uns bleiben.«
Melody atmete tief durch. Sie hatte keine Wahl. Sie durfte keine Informationen zurückhalten, die für die Ermittlung relevant sein könnten. »Weil ich Polizistin bin, Andy«, sagte sie, »und weil das mein Job ist. Und weil – abgesehen von der Tatsache, dass sie beide Prozessanwälte waren und in Pubs getrunken haben – du die einzige Verbindung zwischen den beiden bist, die wir haben.«
Gemma trat gerade im Revier Brixton durch die Tür der Einsatzzentrale, als Kincaid anrief.
»Wollte mich nur mal kurz melden«, sagte er. »Ich bin zu Hause, und die Kinder haben zu Abend gegessen. Ich kann uns schnell was herrichten, wenn du kommst.«
»Bis dahin bist du vielleicht verhungert. Und ich auch«, fügte sie hinzu, als ihr einfiel, dass sie die zweite Hälfte ihres Krabben-Rucola-Sandwichs in Melodys Wagen hatte liegen lassen.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Kincaid.
Nachdem sie sich in den Flur zurückgezogen hatte, berichtete sie ihm von ihrem Besuch in Dulwich.
»Du denkst, die Schwester könnte etwas damit zu tun haben?«, fragte er, als sie geendet hatte. Im Hintergrund konnte sie die Kinder und den Fernseher hören, dann das Gebell der Hunde und einen Knall, den sie als das Zuschlagen der Terrassentür identifizierte. Sie war plötzlich furchtbar müde und sehnte sich nach zu Hause.
»Wenn es nur um ihren Bruder ginge, vielleicht; aber Arnott – das leuchtet mir nicht ein. Sie war zwar nicht besonders glücklich darüber, aber ich habe sie dazu überredet, mir ein neueres Foto zu überlassen; das können wir jetzt in beiden Pubs herumzeigen. Hast du mit Caleb Hart gesprochen?«
»Ja.« Kincaid war hörbar zufrieden mit sich. »Ein ganz Aalglatter. Tut gerade so, als könnte er kein Wässerchen trüben.«
»Was ist mit seinem Alibi für Freitagabend?«
»Er sagt, er habe das White Stag nach dem ersten
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