Wer Boeses saet
Ankunft des Profilers rief keinerlei Reaktion hervor. Die kleine Gruppe schien zu schlafen, wahrscheinlich völlig benommen vom Alkohol. Vor ihnen war zu sehen, woher die Stimmen kamen.
François spürte, wie ihm die Tränen zwischen den Lidern hervorquollen. Diane war auf eine große, weiße Wand projiziert und lächelte ihn an.
Er erinnerte sich genau an den Tag, an dem er diese Szene mit der Videokamera aufgenommen hatte. Das war Heiligabend gewesen, sechs Monate vor dem Drama. Die Männerstimme war seine eigene, nur jünger, fröhlicher. Sie waren im Badezimmer. Er hatte sie überrascht, als sie gerade dabei war, sich zurechtzumachen. Sie hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt, trug einen weißen Bademantel und versuchte, das Objektiv mit der Hand zuzuhalten.
Sekunden verstrichen. Die Szene wurde immer wieder abgespielt. François war unfähig, den Blick vom Bildschirm zu lösen. Die ganzen Jahre war er vor allem geflohen, was ihn an seine Frau hätte erinnern können. Besonders vor den Fotos. Er hatte den Beruf gewechselt und die Wohnung, und die schwarzen Sümpfe hatte er vergessen. Im Keller stapelten sich die Kartons, voll mit dem, was Diane einst gewesen war. Rabiate Heilmethoden gegen ein unvorstellbares Leid.
Im Bruchteil einer Sekunde waren alle Schleusen geöffnet. François hatte immer gewusst, wie sehr Diane ihm fehlte. Aber jetzt begriff er erst richtig, wie verzweifelt seine Lage war. Durch den Versuch, alles wiedergutzumachen, hatte er auf die notwendige Trauerarbeit verzichtet. Auf diese Weise hatte er seine Frau am Leben erhalten. Eine Tote. Dieser Kampf hatte ihn ganz allmählich umgebracht, mehr noch als ihre Abwesenheit. Er hatte gegen sich selbst gekämpft, ein absurder und vergeblicher Kampf, aus dem er niemals siegreich hervorgehen würde.
Hinter ihm bewegte sich etwas und riss ihn aus seiner Träumerei. Er drehte sich um und brachte reflexartig seine Automatikwaffe in Anschlag.
Er ließ sie sofort wieder sinken.
»Charlotte …«
Seine Tochter antwortete nicht. Stocksteif, wie abwesend, stand sie in der Tür.
Der Kommissar steckte seine Waffe wieder weg. Er ging auf sie zu und nahm sie, ohne weiter nachzudenken, in die Arme. Die Jugendliche ließ es mit sich geschehen, reglos wie eine Stoffpuppe.
»Wie geht’s dir, meine Große?«
Immer noch keine Antwort. Obwohl es so düster war im Raum, glaubte Marchand dunkle Spritzer auf ihrem T-Shirt zu sehen. Instinktiv wusste er, dass es Blut war.
Er bekam Panik.
»Hast du dich verletzt?«
»Nein …«
Der Tonfall ließ den Polizisten zu Eis erstarren. Unbeteiligt, weit weg. Damals, als er noch im Hospital Sainte-Anne Psychotiker behandelt hatte, waren einige gewesen, die so geklungen hatten. Nach schweren Wahnanfällen waren die Patienten oft aggressiv und verstümmelten sich selbst.
Vorsichtshalber hob er ihr T-Shirt an.
Die Haut war weiß und durchscheinend.
Das Blut stammte nicht von ihr.
Er lief zum Sofa, kniete vor Maxime nieder und fühlte seinen Puls.
Das Fleisch war kalt. Er hatte keinen mehr.
Dasselbe galt für die anderen.
Hinter ihm ertönte Charlottes Stimme, sie klang jetzt bestimmt:
»Warte, ich mach dir Licht, dann kannst du besser sehen.«
Helligkeit überflutete den Raum und beleuchtete die Körper.
Der Polizist wich entsetzt zurück. Die Lippen der jungen Männer waren blau. Winzige Einblutungen bildeten rote Streifenmuster in ihren Augen. Unten am Hals war ein tiefer, regelmäßiger Einschnitt, der an die Spur einer Klaviersaite denken ließ.
Charlotte hatte sie erwürgt.
Zu ihrem letzten Bild hatte sie sich nicht von einem Horrorfilm inspirieren lassen.
Sie hatte einfach nur den Mord an ihrer Mutter nachgespielt.
66
François kniete, ein Büßer inmitten eines Massengrabes. Ihm schwirrte der Kopf. Er hatte keine Luft mehr in der Lunge, und es kribbelte ihm in den Fingerspitzen. Es fühlte sich an, als habe man ihm ein Hypnotikum gespritzt.
Charlotte kam näher. Die blonden Haare, die ihr gewöhnlich auf die Schultern fielen, waren von einem Haarband gehalten. Ihre Augen, die sonst so klar gewesen waren, waren wie vom Fieber verschleiert. In diesem Augenblick wirkte sie zehn Jahre älter.
Sie stellte sich vor ihren Vater. Hinter ihren zarten Schultern lächelte ihre Mutter.
»Siehst du? Ich hatte es dir ja gesagt.«
»Was hattest du mir gesagt?«
»Du wolltest doch verstehen.«
François schloss die Augen. Um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, musste er erst einmal völlige
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