Wer Boeses saet
Limoges. Fehlte nur noch Maximes Scooter. Der Junge aus Avignon hatte die Strecke wahrscheinlich nicht auf seinem Zweirad bewältigen können. Er war vermutlich wie Charlotte mit dem Zug gekommen und hatte die anderen am Bahnhof von Lamotte-Beuvron getroffen.
François betrachtete aufmerksam die Fassade. Sämtliche Läden waren geschlossen. Kein Laut war zu hören. Er ging ums Haus. Nebel hüllte ihn ein, das Geräusch seiner Schritte wurde von einem dicken Grasteppich geschluckt, sodass man ihn nicht hören konnte.
In dieser abgrundtiefen Stille drang ein Plätschern an seine Ohren. Das Wasser. Es war da. Ganz nah. Schlug gegen den Anlegesteg und brachte das Boot zum Schaukeln.
Hinterm Haus war alles in vollkommene Finsternis getaucht. Wie bei den Gebäuden, die man den Winter über verrammelt. Es gab kein Lebenszeichen, im Dunkel war kaum etwas zu erkennen – ein schwarzes Loch, das eine ganze Galaxie schluckt.
Er ging etwa zehn Meter an der Wand entlang. Dass es Nacht war, störte ihn nicht. Er sah besser als am Tag, verließ sich auf seine Erinnerung: die Rosenhecke, die seine Frau gepflanzt hatte, der Wasserzulauf, an dem sie nach den Wanderungen durch den Sumpf immer ihre Stiefel sauber gemacht hatten, die Küchentür, der Backsteinofen, in dem sie Rehfleisch gebraten hatten.
François zählte drei Schritte und blieb dann stehen.
Hier war die Falltür. Zwei Metallklappen wie ein geschlossener Fensterladen. Der äußere Zugang zum Keller. Auf diesem Weg könnte er sich unbemerkt ins Haus schleichen.
Er kniete nieder und streckte die Hände aus. Seine Finger berührten die raue Oberfläche der verrosteten Kette. Das Vorhängeschloss schien allerdings neu zu sein. Er schlich sich zum Kamin zurück. Mit ausgestrecktem Arm tastete er die obere Kante ab. Hier wurden die unterschiedlichsten Dinge in völligem Durcheinander aufbewahrt. François ertastete eine Feuerzange, Handschuhe, einen kleinen Elektromotor, eine Rosenschere.
Von einem Schlüssel keine Spur.
Er dachte nach. Der Schlüsselbund hatte immer hier gelegen. Hatte seine Mutter beschlossen, ihn anderswo zu verstecken? Vielleicht hatte Charlotte ihn ja an sich genommen, damit er das Haus nur von vorn betreten konnte. Und in ihre Falle ging …
Er versuchte, diese paranoiden Gedanken zu verscheuchen. Charlotte war seine Tochter. Sie mochte noch so verrückt sein, aber sie würde ihn wohl kaum angreifen. Nur die anderen stellten eine Bedrohung dar.
Plötzlich erinnerte er sich an etwas, ein kleiner Geistesblitz. Die Schlüssel lagen nicht mehr obendrauf, sondern befanden sich im Kamin, auf der rechten Seite, in einem hohlen Backstein. Seine Mutter hatte ihm das gesagt, für den Fall, dass er mal wieder zu den schwarzen Sümpfen fahren wollte. Was er dann aber nie getan hatte.
Wieder tastete er das Dunkel Zentimeter um Zentimeter ab. Es war nicht einfach. François bedauerte, dass er kein Raucher war. Dann hätte er wenigstens ein Feuerzeug gehabt.
Nach fünf Minuten fand er schließlich, was er gesucht hatte. Er ging zur Falltür zurück und öffnete das Schloss. Die Kette glitt mit einem dumpfen Schaben durch die Metallringe.
François zog die Klappen hoch. Eine Holztreppe führte ins Innere des Hauses.
Mit der Waffe in der Hand setzte er den Fuß auf die erste Stufe.
65
Der Geruch traf ihn wie ein Schlag.
François hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt. Eine Mischung aus altem Holz, Benzin und Tannin. Diese Duftspur war in seinen Zellen gespeichert wie eine Tätowierung, die in die zarte Rinde seiner Seele geritzt worden war.
Er stieg hinab. Es knarrte. Tiefschwarze Dunkelheit. Es gab keinen Anhaltspunkt, nur das rote Kontrolllämpchen des Heizkessels. Ein leises Schnurren war im Raum zu hören, ein Zeichen, dass er funktionierte.
Sechs Stufen, ganz vorsichtig. François war in der Mitte der Treppe angelangt. Er tastete die linke Wand ab und fand den Lichtschalter.
Ein grelles Licht fiel von der Decke. Der Polizeibeamte kniff die Augen zusammen und stieg weiter die Treppe hinunter. Nichts hatte sich bewegt. Er sah das entlang der Wand gestapelte Feuerholz, den ockerfarbenen Klinkerboden, die geordneten Werkzeuge auf der Werkbank. Es gab ihm einen kleinen Stich ins Herz, als er die Regalfächer erblickte. Sämtliche Wände wurden davon eingenommen wie in einem Bienenstock aus Metall. Über tausend Flaschen lagerten in dem Keller, darunter viele Grand-Cru-Jahrgangsweine. François hatte sie auf Versteigerungen Stück für Stück
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