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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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geprägter Alltag, in dem es keine Rettung gab.
    Und dort hatte er, wider alle Erwartung, seine Berufung gefunden. Die Abgründe der Geistesgestörten hatten bei ihm eine Empathie geweckt, von der er nie etwas geahnt hatte. Ihm, dem verwöhnten Kind, dem man immer schon jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte, sodass es am Ende schon gar keinen mehr verspürt hatte, kam plötzlich das psychische Leid der anderen wie ein Echo vor. Wahrscheinlich das seiner eigenen Verletzungen, die von überbehütenden Eltern verursacht und bisher verdrängt worden waren.
    Aber noch stand er ganz am Anfang seiner Initiationsreise. In diesen heiligen Hallen, in denen man dem Gott der Chemie huldigte, wurde der Wahnsinn, auch in seiner sanften Ausprägung, im großen Stil mit Molekülen bekämpft. Seiner Ansicht nach konnten die Kollegen damit gar nichts ausrichten. Sie zögerten nur den Ausbruch der Krankheit hinaus und brachten sie mit ihren Neuroleptika-Zwangsjacken unter Kontrolle. Seiner Meinung nach musste man das Übel bei der Wurzel packen. Nicht die Zellen behandeln, sondern die Seele heilen.
    François hatte sich für ein Lager entschieden. Für einen anderen Zugang, der auf Zuhören beruhte, auf Empathie und den richtigen Worten. Die Psychoanalyse erfüllte diese Erwartungen. Er schrieb sich in verschiedenen Seminaren ein und fing gleich mit seiner Lehranalyse an, der unentbehrlichen Voraussetzung für die Ausübung dieses Berufes.
    In dieser Zeit lernte er Diane kennen. Seine Frau. Seine bessere Hälfte. Eine Frau von ungeheurer Sanftheit, mit der er stundenlang diskutieren konnte. Sie waren beide fünfundzwanzig Jahre alt, ein Alter, in dem man noch hofft, seinem Leben einen Sinn geben zu können. Sie war auch Ärztin und hatte sich für die Geburtshilfe entschieden. Der Zauber des Gebärens, das Geschenk, das ekstatische Gesicht der Gebärenden, machten sie glücklich. Sie erkannte in diesen Augenblicken der Fülle eine universelle Wahrheit, die einzige, die unsere Gattung definierte.
    Charlotte kam sehr bald. Ein hübsches Baby mit Pfirsichhaut, blondem Haar und den tiefblauen Augen seiner Mutter. Gleich danach die Hochzeit, eine Wohnung in der Nähe der Bastille und haufenweise Projekte. Sie waren so glücklich, wie man es in ihrem Alter nur sein kann, wenn man in einer völlig unproblematischen Liebesbeziehung lebt.
    Fünf Jahre später, sie waren gerade mal Anfang dreißig, kündigte François seine Stelle im Krankenhaus und machte in einem wohlhabenden Wohnhaus im 16. Arrondissement am Square d’Alboni eine eigene Praxis auf. Jetzt begann eine spannende Zeit. Jeden Tag, bei jeder Sitzung schulte er seine Intuition. Er kam immer sehr schnell dahinter, was seine Patienten zu verdrängen versuchten, und brachte sie dann behutsam auf den richtigen Weg. Oft gelang es ihm schon mit einer bestimmten Formulierung, einem einfachen Wort oder einem hartnäckigen Schweigen, den Finger in die nicht benennbare schmerzende Wunde zu legen. Er half den Patienten, ihr Leid zu begreifen, und begleitete sie anschließend auf dem Weg zur Heilung.
    Sein beruflicher Werdegang schien vorgezeichnet. Ihre Ehe war harmonisch, und Charlotte wuchs auf wie eine Blume des Glücks.
    Doch eines Abends im Juni sollte dieses Leben durch ein unerwartetes Ereignis völlig auf den Kopf gestellt werden.
    Der Mann kam schon seit sechs Monaten in seine Praxis. Er war groß, hager, wirkte stets wie aus dem Ei gepellt und litt angeblich an einer chronischen Depression. François hatte allerdings sofort gemerkt, dass er es hier mit einem Perversen zu tun hatte. Er war ein Manipulator, einer von denen, die sich einen Psychoanalytiker leisten, um ihre Allmacht spüren zu können. Hinter dem klinischen Beschwerdebild seines Patienten hatte François ein großes Gewaltpotenzial wahrgenommen. Eine unterdrückte Gewaltbereitschaft, die er unter seinen höflichen Umgangsformen verborgen hielt. Die übelste aller denkbaren Konstellationen …
    Trotzdem hatte er beschlossen, sich dieser ärztlichen Herausforderung zu stellen. Wahrscheinlich aus Stolz. Oder weil er letztlich der Ansicht war, jeder Neurotiker solle seine Chance bekommen.
    Er begann mit der Analyse. Ein gefährlicher Weg, der ihn ständig zur Umsicht zwang. Sein Klient testete ihn unaufhörlich, spielte Katz und Maus mit ihm, stellte seine Widerstandsfähigkeit auf eine harte Probe. Die Sitzungen gerieten zu einem wahren Kräftemessen. Nichts ging voran.
    Der Patient schraubte die Einsätze mit jedem

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