Wer Boeses saet
lassen.«
»Wolltest du nicht bei deiner Großmutter essen?«
»Hab meine Meinung geändert.«
Der Profiler seufzte. Charlotte änderte ständig ihre Meinung. Das war sogar eine ihrer typischen Eigenschaften, seit sie in die Pubertät gekommen war.
»Hallo.«
François drehte sich um.
»Hallo …«
Sie blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich an den Türrahmen, die Arme erwartungsvoll verschränkt. Charlotte hatte bereits den Körper einer Frau, was durch die Hüftjeans und das eng anliegende T-Shirt noch betont wurde, aber François sah in ihr immer noch das kleine Mädchen, das er einst im Arm gehalten hatte. Eine reine, blonde Schönheit, die zwar manchmal einen recht harten Gesichtsausdruck, aber auch etwas Zerbrechliches im Blick haben konnte.
Er wusste, sie würde nicht auf ihn zugehen. Sie war sauer auf ihn, weil er so viel weg war und weil er sie seit Langem zu einem Alltag ohne feste Regeln zwang. Eigentlich wäre es an ihm, den ersten Schritt zu tun.
Er ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn.
»Geht’s gut?«
»Geht schon.«
»Ich glaube, ich lasse mir Sushi bringen. Leistest du mir Gesellschaft?«
»Ich hab morgen früh eine Matheprobe. Ich darf nicht zu spät ins Bett.«
François warf einen Blick auf die Uhr.
»Es ist zwölf nach zehn. Schenkst du mir deine Zeit bis um halb?«
»Ich muss mir die Sachen noch anschauen, damit bin ich noch nicht durch …«
»Eine Viertelstunde. Mehr nicht.«
Sie wand sich verlegen. Dann stellte sie den Wecker ihres Handys.
»Der Countdown hat begonnen.«
François lächelte. Er schenkte sich ein Glas Pampelmusensaft ein, bestellte sein Abendessen und ging dann mit ihr ins Wohnzimmer hinüber.
Sie setzten sich nebeneinander auf das weiße Ledersofa, das vor dem großen Glasfenster stand. Von dort hatte man eine zauberhafte Aussicht. Zu ihren Füßen erstreckte sich die Seine, ein langes schwarzes Band, in dem es hier und da funkelte, während im Hintergrund die steinernen Fassaden der Wohnhäuser der Rive Gauche in die erleuchtete Nacht aufragten.
Charlotte sagte nichts. Sie schien ein bisschen abwesend, als sei sie mit ihren Gedanken woanders. Obwohl die Stimmung etwas gedrückt war, genoss der Polizist den Augenblick. Allein die Nähe zu seiner Tochter erfüllte ihn schon mit Freude. Sie war für ihn wie ein Geschenk.
Er beschloss, ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Was gibt’s Neues?«
»Nichts Besonderes.«
»Wie läuft’s in der Schule?«
»Viel Arbeit.«
»Das ist normal. Ende des Jahres machst du dein Abi.«
Sie nickte, aber sie wirkte nicht überzeugt. Stille machte sich breit. Darin steckte im Ansatz alles Ungesagte dieser Welt. François konnte es nicht länger ertragen und platzte heraus:
»Bist du sauer auf mich?«
»Nein.«
»Doch. Und du hast recht.«
Er machte eine Pause. Was er jetzt gestehen wollte, war nicht leicht herauszubringen, aber er wollte Klartext mit ihr reden.
»Ich verstehe, dass du wütend bist. Wir sehen uns überhaupt nicht mehr. Du denkst wohl, ich lasse dich im Stich.«
»Das bin ich gewohnt.«
»Sag das nicht. Ich liebe dich mehr als alles andere. Ich schwöre dir, ich würde gerne mehr bei dir sein.«
»Du hast deine Arbeit … So ist das eben.«
»Soll ich damit aufhören?«
Sie lachte höhnisch.
»So ein Blödsinn.«
»Das kann ich tun. Ich muss nur darum bitten.«
»Und danach?«
»Wonach?«
»Nichts …«
François spürte, das etwas nicht stimmte. Er hakte nach:
»Was ist los, meine Große?«
Charlotte holte tief Luft. Sie sprach in einem Atemzug, ohne ihren Vater anzusehen.
»Du merkst das gar nicht … Seit Mama tot ist, bist du völlig durchgedreht. Du hast deine Arbeit sausen lassen, weil sie dich, sagen wir es mal so, zu sehr an die Vergangenheit erinnerte. Um stattdessen was zu machen? Genau dasselbe. Nur dass du jetzt bei den Bullen arbeitest und dein Leben auf der Straße verbringst. Völlig bescheuert. Letztlich denkst du die ganze Zeit nur an sie. Das wird immer so sein. Und ich …«
Sie verstummte. Keine Träne auf der Wange, kein Zucken der Lider. Sie hatte sich hinter ihrem Schmerz verschanzt wie eine einbalsamierte ägyptische Prinzessin in ihrem Sarkophag.
François sah seine Tochter verdutzt an. Ein paar Sekunden lang suchte er nach einer Antwort, aber es fiel ihm keine ein. Charlottes Schmerz lähmte ihn völlig. Er war kalt wie ein erstarrtes Fossil, ein Herz aus Metall unter einer dicken Eisschicht.
Aber was ihm am meisten zu schaffen machte, hatte
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