Wer Boeses saet
Herz. Er hatte Patienten zugehört, die am Rande des Abgrunds standen, hatte ihnen zugehört in ihrem Schmerz, bis sie an ihre endgültigen Grenzen stießen.
Aber dabei hatte es sich stets um Erwachsene gehandelt.
Beim Überfliegen des Blogs von Justine entdeckte er weit Schlimmeres. Für diese Kinder hätte die Zukunft Hoffnung verheißen müssen. Stattdessen gab es für sie nur das Nichts.
François schloss die Archive und kehrte zur Startseite zurück. Noch einmal sah er sich jeden einzelnen Icon an. Es gab Lektürehinweise, Presseartikel, Videos, Zeugenberichte, Links und sogar ein Goldenes Buch … Letzteres klickte er an. Es kam ein Satz als Aufmacher, geschrieben in bonbonrosa: »Mein Goldenes Buch. Wenn ihr mir ’ne klitzekleine Nachricht hinterlassen wollt, das wär echt supi! Bussi.« Der Polizist sah sich an, was die Leute gepostet hatten, und begann mit den ältesten Einträgen. Kurze Texte von anrührender Naivität, an denen man sehen konnte, wie sehr die Pro-Anas noch mit einem Bein in der Kindheit standen.
Während er so las, zog ein Kommentator die Aufmerksamkeit des Profilers auf sich. Eine gewisse Natascha hatte seit November mehrmals geschrieben. Dem Tonfall war zu entnehmen, dass sie eine persönliche Beziehung zu Justine hatte. Sie sprach von ihrer ersten Begegnung, von ihren langen Gesprächen über die Krankheit, von der Unterstützung und dem Trost, den Justine bei ihr gefunden hatte. Sie sagte ihr auch, man müsse Hoffnung haben, und solange man am Leben sei, sei noch nichts entschieden.
François blickte auf. Wer war diese Natascha? Jedenfalls keine Pro-Ana. Was sie schrieb, war eher strukturiert, so als käme es von einer reifen Frau. Sie schrieb wie eine Psychologin, nuanciert und voller Empathie. Sie machte der jungen Frau Mut, zu hoffen und zu kämpfen, ohne sie je zu verurteilen.
Eine halbe Sekunde lang stellte der Polizist sich vor, es könnte sich auch um den Mörder handeln. Das Profil, das er gezeichnet hatte, deutete auf ein charismatisches Individuum hin, eine Art Guru, der seine Opfer manipulierte, indem er mit ihren Schwächen spielte.
Aber von diesem Weg kam er sogleich wieder ab. Der Schlächter war ein Mann. Nicht nur weil diese Art von Serienmörder fast immer männlichen Geschlechts war, sondern auch aufgrund des besonderen Charakters seiner Perversion. Dass er aus den Verbrechen ein Ritual machte, die Anklänge an die Transsexualität – all das deutete nicht darauf hin, dass eine Frau die Schuldige war. Ganz im Gegenteil. Außerdem hatte der Täter eine unglaubliche Kraft gebraucht, um über den Zaun der Verbrennungsanlage in Grenoble zu springen, noch dazu mit dem zweiten Opfer auf dem Rücken.
François rieb sich die Augen. Er wurde langsam müde und kam doch kaum voran. Er gab sich einen Ruck, noch eine letzte Anstrengung zu unternehmen, um mit dem Goldenen Buch abzuschließen. Ermunternde Kommentare, Dankesbotschaften und gelegentliche gegen Pro-Ana gerichtete Beleidigungen wechselten einander ab. Eine der letzten Botschaften fiel ihm auf. Wieder Natascha. Er runzelte die Brauen und las.
15. Januar 2009 .
»Ich bin’s, Natascha. Ich hab deine letzten Posts gelesen. Dir scheint es ja gar nicht gut zu gehen. Ruf mich an. Lass uns darüber reden.«
Dem folgte eine Handynummer.
Diesmal war es zu viel. Dieser mysteriöse Rettungsengel bot ihr am fünfzehnten seine Hilfe an, als Justine noch zögerte, ob sie sich in die Luft sprengen sollte oder nicht. Am nächsten Tag hatte die junge Frau das Gefühl, bereit zu sein. Was war geschehen? Hatten sie Kontakt aufgenommen? Um sich was zu sagen?
François spürte, dass die Antworten auf diese Frage entscheidend waren. Der Mörder hatte den Moment nicht zufällig gewählt. Er hatte Justine noch am gleichen Abend umgebracht, genau an diesem Abend. Wie sollte man nicht darauf schließen, dass er Natascha benutzt hatte?
Der Profiler griff nach einem Bleistift und notierte sich die Zahlen auf ein Stück Papier. Dann griff er zu seinem Handy und rief dort an.
Er hörte die Stimme der Telefonansage:
»Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zurzeit leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal …«
40
Zu aufgeregt, um einschlafen zu können.
Nachdem sie Gérald hatte weiterkiffen lassen, war Julia nach Hause zurückgekehrt. Ihre Wohnung war alles andere als ein Palast, aber sie fühlte sich darin wohl. Wenn sie nach Hause kam, hatte sie das Gefühl, sich von der Welt zurückzuziehen, auf eine
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