Wer Böses Tut
Schwäche verfluchend, wischte sie sich mit dem Saum ihres Pullovers die Tränen ab und schaltete das Radio ein. Fergie sang Big Girls Don’t Cry von ihrem Debütalbum. Während sie den Gang einlegte und startete, links abbog, den Fluss hinter sich ließ und die ruhige High Street entlangfuhr, hörte sie dem Text zu und musste über die Ironie lächeln. Große Mädchen weinen nicht. Das sagte doch eigentlich alles.
Zehn
»Soll ich die Mama spielen?«, fragte Detective Superintendent Carolyn Steele Tartaglia. Mit erhobenen Armen stand sie vor dem Tablett mit Teekanne, Tassen, Zuckerschale, Milchkännchen und einem Teller mit einem Stapel Vollkornschokoladenkeksen.
Mama? Er unterdrückte ein Lächeln. Klein, wie sie war, mit den breiten Schultern, dem athletischen Körper und in dem strengen, wenig weiblichen Hosenanzug hatte sie nichts Mütterliches oder auch nur annährend Kuscheliges und Gemütliches an sich.
»Wie hätten Sie ihn gerne?«
»Weiß, ohne Zucker, danke.«
Es war Tag drei der Ermittlungen. Sie war bei einer Besprechung mit ihren Vorgesetzten in Hendon gewesen und hatte die Frühbesprechung verpasst. Sie schenkte das starke Gebräu ein, reichte Tartaglia eine Tasse und gab Milch und zwei Stück Zucker in die ihre. Sie bot ihm den Teller mit den Keksen an, und er nahm einen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Als sie sich bediente, klingelte ihr Telefon, sie griff nach dem Hörer und klemmte ihn zwischen Ohr und Schulter, während sie ihren Keks in den Tee tunkte. Am anderen Ende war eine männliche Stimme gerade hörbar.
Tartaglia blendete Steeles wenige Bruchstücke der Unterhaltung aus und betrachtete durch das Fenster hinter ihr die kleinen viktorianischen Häuser auf der anderen Straßenseite. Über Nacht hatte es angefangen zu tauen, und Wasser tropfte von
den Dächern auf die Straße, kleine Bäche rannen die Scheibe hinunter. Der Himmel war bedenklich dunkel und sah aus, als könne er jeden Moment seine Schleusen öffnen. Er warf einen Blick auf Steele und fragte sich, mit wem sie wohl telefonierte. Vielleicht Superintendent Cornish oder jemand anders aus Hendon. Definitiv ein Vorgesetzter, wie er Steeles devotem Ton entnahm.
Während er darauf wartete, dass sie fertig wurde, fiel es ihm schwer, nicht daran zu denken, dass hier noch vor drei Monaten Trevor Clarkes Büro gewesen war. So viel hatte sich in dieser Zeit verändert, und das Büro war kaum wiederzuerkennen. Die schmutzigen Jalousien waren entfernt worden, die Fenster geputzt, und die Luft war nicht mehr durchsetzt von der gewohnten Mischung aus abgestandenem Rauch, Fertigsuppen und billigem Aftershave, sondern roch frisch und rein. Sogar der alte, abgenutzte Schreibtisch war verjüngt worden, seine Oberfläche mehr oder weniger sauber, die Stifte standen in einem Lederbehälter, die Akten akkurat gestapelt an der Seite.
Sein Blick fiel auf eine große Schwarzweißfotografie von Rachel Tenison im Eingangskorb. Er hatte keine Ahnung, woher Steele sie hatte oder wozu sie sie brauchte; vermutlich war sie für Pressezwecke gedacht und von Patrick Tenison zur Verfügung gestellt worden. Er langte über den Tisch und griff danach. Das Foto sah aus wie eine professionelle Studioaufnahme, und zwar eine gute, viel schärfer und aufschlussreicher als die paar Familienschnappschüsse, die er gesehen hatte. Hellblonde Haare umrahmten ihr herzförmiges Gesicht, ihre Lippen waren leicht geöffnet, als setze sie gerade zum Sprechen an. Ihre breite Stirn und die schmalen, rundlichen Züge hatten etwas mädchenhaft Hübsches, aber die Art, wie sie den Kopf hielt und direkt in die Kamera blickte, das Kinn ein wenig angehoben, war herausfordernd. Und da war ein Licht in ihren Augen, ein neckisches
Funkeln, als flirte sie mit dem Fotografen, was er sofort verführerisch fand. Seine Gedanken wanderten zu ihrem sparsam möblierten Schlafzimmer mit dem großen Bett, den Spiegeln und der verschlossenen Truhe, und wieder einmal fragte er sich, wie sie wohl wirklich gewesen war.
Steele knallte den Hörer auf die Gabel. »Das war mal wieder der Bezirksvorsitzende von Kensington und Chelsea. Der arme Mann wird von einem Trupp pensionierter Majore, alter Jungfern und Kindermädchen belagert, die sich darüber beschweren, dass der Holland Park gesperrt ist. Er fleht uns an, den Tatort freizugeben.«
Klirrend stellte er seine Tasse auf den Tisch. »Herrgott noch mal! Eine Frau wurde ermordet, und den Leuten ist nur wichtig, wann sie wieder
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