Wer Böses Tut
die Verse eines Gedichts hatten für sie keine Bedeutung.
Turner beugte sich vor und griff nach den Blättern. »Also, was haben wir hier?« Er begann sie langsam durchzusehen und befeuchtete seine Daumenspitze, um leichter blättern zu können. »Eine Art Essay, stimmt’s?«
»Nein, es ist das sechste Kapitel einer wissenschaftlichen Arbeit oder eines Buches. Die Dekadenten: Eine Neubewertung lautet die Überschrift.«
»Bist du dir sicher, dass es kein Aufsatz von irgendjemand anderem ist?«
»Dafür ist es viel zu gut geschrieben und viel zu lang. Vorausgesetzt, die Notizen und Korrekturen sind in ihrer Handschrift geschrieben, würde ich sagen, es ist ihre Arbeit.«
»Die Schrift können wir schnell vergleichen«, sagte er und blätterte weiter. »Sieht so aus, als wäre sie nicht fertig geworden. Die Korrekturen hören mittendrin auf.«
»Vielleicht wurde sie gestört oder hat es aus irgendeinem Grund beiseitegelegt, weil sie keine Zeit mehr hatte, weiter daran zu arbeiten.«
Er ließ die Papiere sinken und sah sie an. »Vielleicht hat jemand angerufen, oder vielleicht saß sie sogar dran, als der Mörder kam.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich an so eine Arbeit setzen würde, wenn ich auf ein heißes Date warte.«
Er lächelte. »Du würdest dich wahrscheinlich hübsch machen.«
»Oder kochen«, sagte sie ernsthaft und ärgerte sich, weil er versuchte, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen. »Jedenfalls würde ich nicht mein Buch redigieren.«
»Na ja, du bist keine Englischlehrerin, und Catherine Watson war nicht so hübsch wie du.«
»Dozentin«, korrigierte sie ihn und mied seinen Blick. Normalerweise war sie nicht so pedantisch, aber er sollte nicht denken, dass sie so leicht zu gewinnen war.
»Wie auch immer. Ehrlich gesagt, wissen wir nicht, wen sie an diesem Abend erwartet hat. Die Kerzen und das ganze Zeug, das sie gekauft hat, ließ uns annehmen, dass sie eine Verabredung hatte, aber vielleicht haben wir uns auch geirrt. Vielleicht ist auch nur eine Freundin vorbeigekommen.«
»Das ist egal. Der Punkt ist: Die Papiere waren in dem Raum, in dem sie ermordet wurde, und der Mörder muss sie gesehen haben.«
Er nickte langsam. »Du weißt, dass in der Mitte zwei Seiten fehlen, oder?«
»Was? Zeig her.«
Er gab ihr den Stapel, und sie blätterte ihn durch.
»Seite dreiundsechzig und vierundsechzig.«
»Du hast Recht«, sagte sie ärgerlich, weil sie es übersehen hatte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schloss einen Augenblick die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. »Da waren zwei Stapel mit Papieren auf dem Boden, wenn ich mich richtig erinnere. Vielleicht hat sie die Seiten auf zwei verschiedene Stapel gelegt, damit sie später da weitermachen konnte, wo sie aufgehört hat. Ich brauche Nahaufnahmen und Standbilder von der DVD vom Tatort.«
Turner zuckte unbeteiligt mit den Schultern. »Willst du sie alle zur Analyse schicken?«
»Ja. Sie wurden nur oberflächlich untersucht.«
»Das wird ganz schön was kosten. Was erwartest du dir davon?«
»Einen Fingerabdruck oder DNS-Spuren, wenn wir Glück haben.«
»Glaubst du wirklich, dass der Mörder sie angefasst hat?«
»Wie hätte er sonst das Gedicht sehen sollen? Es kommt erst nach ein paar Seiten.«
Er nickte. »Guter Punkt. Das ist wahrscheinlich der Vorteil, wenn ein frischer Blick draufschaut.«
Und ein klarer, nüchterner Verstand, wollte sie sagen, hielt sich aber zurück. »Und was hast du heute so gemacht außer auszuschlafen?«
Das kam schärfer, als sie beabsichtigt hatte, doch er schenkte ihr ein verzeihendes Lächeln.
Er rieb sich die Hände. »Also, erst mal habe ich Malcolm Broadbent aufgespürt. Wenn du dich erinnerst, war er unsere Nummer eins. Aber es sieht so aus, als können wir ihn ausschließen, jedenfalls für den Mord im Holland Park. Wenn sich sein Alibi bestätigt, war er bei seiner Mutter in Hull.«
»Bleibt noch der andere Verdächtige … wie heißt er gleich wieder?«
»Genau. Michael Jennings. Er ist umgezogen. Bis jetzt habe ich ihn noch nicht gefunden. Aber ich bin dran, Sam.« Er hielt inne und betrachtete sie aus seinen seltsam blassen Augen. »Keine Sorge. Ich weiß, was du denkst, aber ich kriege mich in den Griff. Wirklich. Ich werde die Sache nicht versauen und dich nicht enttäuschen. Ehrlich.«
Sie war versucht, ihm zu sagen, dass er das bereits getan hatte, aber sie hielt den Mund. Er lächelte sie kleinlaut an und erinnerte sie an einen zottigen
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