Wer braucht denn schon Liebe
durchquerte. Ein letztes Quietschen der Holztür. Dann war der Spuk vorbei.
Karen zitterte wie Espenlaub, obwohl ihr längst nicht mehr wirklich kalt war. Noch immer wagte sie es kaum, die Augen zu öffnen. Vorsichtig blinzelte sie zu Lorenzo hinüber, der ihr den Rücken zuwandte und in gleichmäßigen und tiefen Zügen atmete.
Sah so ein potenzieller Mörder aus?
Woher sollte sie das wissen? Vor ihm war sie noch keinem begegnet. Sie hoffte es jedenfalls.
Ach was!, sprach sie sich selbst Mut zu. Sie war Karen Rohnert, sechsundzwanzig, erfolgsgewohnte Unternehmensberaterin der Firma Kesselbaum & Co. Dank ihres überragenden Intellektes bekam sie jede Situation in den Griff – früher oder später. Diesmal würde es eventuell etwas später werden. Denn nachdem sie bereits den Verlust Kevins, des Mietwagens und ihres Gepäcks verkraften musste und die Begegnung mit Lorenzo auch nicht zu ihrem routinemäßigen Selbsterfahrungsprogramm zählte, waren ihre physischen und psychischen Kräfte fürs Erste aufgebraucht.
Was immer jetzt noch auf sie zukam – vorher brauchte sie erst einmal eine ordentliche Portion Schlaf. Wohin sollte sie auch fliehen? Draußen lungerte vermutlich Lorenzos Kumpel herum; weit würde sie also nicht kommen.
Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.
Angespannt lauschte Karen eine kleine Weile noch auf jedes Geräusch, das von draußen zu ihnen hereinkam. Bei jeder Bewegung, die Lorenzo machte, schreckte sie auf. Doch dann schlief sie ein.
Als Karen die Augen aufklappte, bewegte sich ihre Hand im Rhythmus seines Atems, knapp zehn Zentimeter unterhalb seines Bauchnabels. Verwundert schlug sie die Augen auf. Und obwohl sie braune Augen bei Männern eigentlich nicht besonders mochte, war das Paar, in das sie gerade blickte, das bei weitem aufregendste, das sie je gesehen hatte.
Lorenzo lag mit hinter dem Kopfverschränkten Armen auf dem Rücken, wagte sich nicht zu rühren und schenkte ihr ein Grinsen, das an Unverschämtheit kaum zu überbieten war.
Bei Licht betrachtet und mit noch vom Schlaf verklebten Augen war der Mann ein einziger Superlativ.
»Wissen Sie nicht, dass es unhöflich ist, eine Frau im Schlaf zu beobachten?!«, giftete sie ihn an. Möglichst unauffällig versuchte sie dabei ihre Hand zu einer weniger gefährlichen Stelle zu bewegen. Die verräterische Beule in seiner Hose war ihr nicht entgangen.
»Nun gucken Sie doch nicht so erschrocken. Morgens um diese Zeit ist jeder Mann noch ein Mann«, amüsierte Lorenzo sich auf ihre Kosten.
Energisch rollte sie sich von ihm weg. »Die meisten Männer sind es leider nur um diese Zeit«, gab sie zurück, ohne ihn anzusehen. Stattdessen fing sie an, einzelne Heuhalme von ihren nackten Beinen zu klauben, die sich im Schlaf in ihre Haut gedrückt hatten.
»Schlechte Erfahrungen gemacht?«, erkundigte er sich ohne eine Spur von Mitgefühl.
»Ja, mit Ihnen. Was war das für ein Mann letzte Nacht?« Erschrocken verfluchte Karen sich selbst. Eigentlich hatte sie keinen Ton über den nächtlichen Zwischenfall verlieren wollen. Kein Wunder, dass Lorenzo sie mit finsterer Miene fest am Oberarm packte.
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte er mit drohendem Unterton.
Das nächste Wort kann das falsche sein, Karen. Denk nach!
Vergeblich versuchte Karen sich zu befreien. »Aua! Äh … Ehrlich gesagt bin ich mir nicht mal sicher, ob es sich überhaupt um einen Mann gehandelt hat. Es war dunkel und …«
»Aber Sie sagten doch …«
»Ich weiß, was ich sagte! Aber ich habe ihn … äh … mehr gehört als gesehen. Ich konnte ihn sogar riechen.«
Der Druck auf ihren Arm ließ nach. Lorenzo entspannte sich merklich. »Roch er etwa genauso, wie Sie es mir andichten wollen?«
»Ach, Sie sind mir einfach zu blöd! Tut mir leid, dass ich das so offen sagen muss.« Karen hielt den Moment für ihren Abgang gekommen. Scheinbar wütend beendete sie ihre Halmabklaub-Aktion und stapfte zur Tür.
»Mir tut es leid, dass ich Sie intellektuell unterfordere. Trotzdem sollten Sie sich in Bezug auf meine Person sehr genau überlegen, was Sie sagen.«
»Wollen Sie mir drohen?«
»Nehmen Sie es als freundlich gemeinten Rat.«
»Na, wenn das keine Drohung ist, bin ich eine Heilige.«
Zu spät merkte sie erst an seinem breiten Grinsen, dass sie ein Eigentor geschossen hatte.
»Aber keine Angst, ich verrate Sie nicht an die Polizei.« Noch immer klebte das breite Grinsen hartnäckig auf seinen Lippen. Sie verspürte die allergrößte Lust, es
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