Wer braucht denn schon Liebe
blickte. Sofort zog er sich vom Fenster zurück. Doch dann erinnerte er sich daran, dass die Scheiben des gepanzerten Fahrzeugs, in dem er gerade saß, von außen absolut blicksicher waren. Als er sich erneut vorbeugte, um sie zu suchen, zeigte die Ampel auf Grün, der Wagen fuhr an, und Karen gehörte der Vergangenheit an.
Arrivederci, Amore.
Lorenzo schloss die Augen, lehnte den Kopf in die weichen Polster des Wagens zurück und versuchte den Schmerz, den er fühlte, zu ignorieren.
Ein Abenteuer.
Eine Liebe auf Zeit.
Nicht mehr.
Der Waschraum eines Bahnhofs war nicht unbedingt der ideale Ort, um sich für eine Verabredung mit dem Liebsten zu stylen, aber Karen versuchte es zumindest. Es gelang ihr sogar, der Frau, die den Ausgang bewachte, ein simples Gummiband für ihre Haare abzuhandeln. Leider fühlte die Frau sich betrogen, weil Karen später nicht über das Eurostück verfügte, um die Benutzungsgebühr zu bezahlen. Ihr Gezeter begleitete Karen bis in die Bahnhofshalle hinein.
Obwohl sie sich vor mehr als einer halben Stunde getrennt hatten, war Karen die Erste, die am vereinbarten Treffpunkt erschien. Sie fühlte sich fremd inmitten der vielen Reisenden, die an ihr vorbei zu den Bahngleisen und Ausgängen hasteten. Ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn weckte ihre Neugier, als er an ihr vorbei in offensichtlicher Zeitnot zu den Taxen eilte und dort mit dem Fahrer wegen eines Kindersitzes verhandelte. Der Mann besaß eine entfernte Ähnlichkeit mit Lorenzo, und ohne dass sie es beeinflussen konnte, erschienen vor ihrem geistigen Auge Visionen von ihr, Lorenzo und ihrem ersten gemeinsamen Kind.
Oh ja, das Undenkbare war passiert.
Sie liebte Lorenzo. Mit jeder Faser ihres Herzens.
Da half auch kein Zaudern mehr: Nach diesen wenigen gemeinsamen Stunden fiel es ihr nicht mehr schwer, ihm ihr volles Vertrauen zu schenken.
Und ihr Herz.
Karen liebt Lorenzo, trällerte sie frohgemut in sich hinein, gerade als so ein gepanzerter Angeberschlitten direkt vor ihr bei Rot an einer Ampel hielt. Sie brauchte kein Geld zum Glücklichsein. Vorausgesetzt, sie überzeugte Lorenzo davon, dass sie als Räuberbraut für ihn die ideale Besetzung war.
Im Überzeugen zählte sie zur absoluten Spitzenklasse. Überzeugen gehörte zu ihren ureigensten Aufgaben als Unternehmensberaterin. Darin war sie geschult.
»Signorina Rohnert?!«
»Wie geht es dem Motorradfahrer?«, rutschte es Karen überrascht heraus, als wie aus dem Nichts plötzlich der Mann in Schwarz vor ihr auftauchte, Entführer und Retter in einer Person. Schlaglichtartig erinnerte sie sich: der Motorradfahrer, der sie attackiert hatte, verkrümmt unter seiner Maschine. Dessen Freundin, die sich darüber zu freuen schien und sich dann feige davonmachte. Sie auf dem Rücksitz im Wagen des Fremden.
Lorenzo.
Der Mann quittierte ihre Frage mit einem Lächeln. »Den Umständen entsprechend«, erklärte er. »Ein paar Knochenbrüche und jede Menge Koks. Wenn er aus dem Krankenhaus rauskommt, ist er vermutlich clean.« Er überließ es Karen, die richtigen Schlüsse aus seinen Worten zu ziehen.
Obwohl sie sich beschämt eingestehen musste, dass sie sich in den vergangenen Stunden nicht allzu viele Gedanken um ihren Unfallgegner gemacht hatte, atmete sie doch auf. »Haben Sie seine Freundin gefunden?«, erkundigte sie sich eher halbherzig.
Der Mann zuckte desinteressiert mit den Achseln. »Kommt es darauf an? Sie hat ihre Chance genutzt, die Sterne neu zu ordnen.« Irgendetwas in seinem Ton machte sie stutzig. Alarmiert starrte sie auf den dicken DIN-A4-Umschlag, den er aus seiner Jackentasche zog.
»Es war wirklich nett, Sie noch einmal getroffen zu haben, aber ich bin verabredet, und mein Freund ist schrecklich eifersüchtig«, begann sie mit trockenem Mund dummes Zeug zu stammeln, in der vergeblichen Hoffnung, das Unheil, das sie unweigerlich auf sich zukommen sah, noch abwenden zu können. »Ich möchte nicht, dass er uns beide zusammen sieht.«
»Das wird er nicht«, entgegnete der Mann ernst, fast mitleidig. Womit er in Karen Panik auslöste.
»Wer sind Sie?«
»Nennen Sie mich Antonio, Frau Rohnert.« Karen schluckte nervös, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte.
Antonio zeigte auf den Umschlag in seiner Hand. »Lorenzo lässt Sie grüßen. Er ist in den Schoß seiner Familie zurückgerufen worden. Wie er mir sagte, verstehen Sie, was damit gemeint ist.« Scharf und durchdringend blickte er sie an. Karen nickte stumm, wobei ihr das Herz bis
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