Wer braucht denn schon Liebe
zum Hals hinauf schlug.
Die Mafia.
Folglich gehörte der Mann in Schwarz auch zum Club. Die aberwitzige Vorstellung, laut um Hilfe zu rufen, um so die Aufmerksamkeit der Polizei zu wecken, flammte in ihr auf. Doch sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Wenn der Bulle neben ihr in der Lage war, Lorenzo von ihr fernzuhalten, der ihr noch vor keiner vollen Stunde so nah gewesen war, wie man einem anderen Menschen nur sein konnte, dann war er auch fähig und vermutlich gewillt, sie ohne viel Federlesen um die Ecke zu bringen. Wer vermisste schon eine junge Deutsche, die sich ohne gültige Papiere zu Fuß in Italien herumtrieb? Kevin war anderweitig beschäftigt, und ihre Oma, an die sie sich zurzeit nur äußerst ungern erinnerte, ging davon aus, dass Karen noch ein paar Ferientage am Mittelmeer verbrachte.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Karen so ruhig wie möglich.
Wieder lächelte der Mann, womit er Karen unbewusst das Gefühl gab, dass er sie nicht ganz ernst nahm.
»In diesem Umschlag finden Sie alles, was Sie für die Heimreise brauchen. Ein Ticket für ein Schlafwagenabteil im Nachtzug von Neapel nach Köln, Geld und neue Papiere.«
»Neue Papiere?« Karen fühlte, wie sie erbleichte.
»Ausgestellt auf den Namen Karen Rohnert, geb. am 4. April 1976, wohnhaft Mühlenstraße 23a in Meerbusch-Länk.«
»Lank«, verbesserte Karen automatisch. Die Angaben stimmten bis ins Detail. Die Mafia war bestens informiert.
Wie war das doch noch gleich mit der Räuberbraut? Wohl eher ein Fall von romantischer Verklärung.
»Ich nehme das Ticket, aber die Papiere und das Geld können Sie behalten«, versuchte sie die Einflussnahme zu begrenzen.
»Ohne Papiere kommen Sie nicht über die Grenze. Und das Geld können Sie unbedenklich annehmen. Es ist sauber.« Seine Worte wurden von dem diabolischsten Grinsen begleitet, dass sie je an einem Menschen bemerkt hatte. Karen riss ihm den Umschlag aus der Hand.
»Werde ich Lorenzo wiedersehen?«
»Das haben nicht wir zwei zu entscheiden«, antwortete er, diesmal ohne ein Lächeln. Dann beugte er sich zu ihrer Überraschung zu ihr herunter und küsste sie ganz zart auf die Wange. »Den soll ich Ihnen von Lorenzo geben. Adieu.« Er wandte sich zum Gehen und war beinahe schon in der Menge verschwunden, als sie sich aus ihrer Erstarrung löste.
»Antonio?«
Bereitwillig wartete er, bis sie ihn eingeholt hatte. Als sie zu ihm aufblickte, schwammen ihre Augen in Tränen. »Sagen Sie ihm bitte …«
… dass ich ihn liebe, lag ihr auf der Zunge, doch sie schaffte es nicht, es diesem Fremden gegenüber, von dem sie wusste, dass er unter seiner Jacke ein Schießeisen verbarg, auch auszusprechen.
»Sagen Sie ihm bitte … einfach bloß danke!« Tränenblind, ohne nach rechts oder links zu sehen, stolperte sie davon. Ohne Ziel.
Sie hatte Lorenzo verloren.
Gemessen an Karens Lebensumständen der vergangenen Tage war ihre Einzelkabine im Schlafwagenabteil erstaunlich luxuriös. Sauberes Laken und Bettzeug und eine eigene Badezelle als Tüpfelchen auf dem i. Dennoch brauchte Karen noch eine Flasche Rotwein und zwei üppig belegte Panini, um schließlich doch irgendwann in einen traumlosen Schlaf zu fallen. Erst sehr viel später nahm sie ein Geräusch wahr und erwachte. Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, dass ihr Gesicht nass war, was nur bedeuten konnte, dass sie geweint hatte.
Eigentlich weinte sie nie.
Lorenzo.
Resolut wischte Karen mit den Tränen auch den Gedanken an ihn fort.
Fürs Erste, jedenfalls.
Das Herz.
Vertrau mir.
Sie hatte ihm vertraut.
»Momento, per favore«, rief Karen aufgewühlt, als es an der Tür ihres Abteils klopfte. Hastig schlüpfte sie in den warmen Pullover, den sie noch kurz vor Fahrtantritt zusammen mit einem Schlafanzug, einer hellen Baumwollhose, frischen Dessous und einem kurzärmeligen T-Shirt in der Bahnhofsboutique erstanden hatte. Ihr vom Straßenstaub angegrautes Kleid hatte sie während der Fahrt einfach aus dem Fenster flattern lassen. Es gehörte der Vergangenheit an.
Ebenso wie Lorenzo.
Karen raffte die Haare mit dem Gummiband im Nacken zusammen und ermahnte sich selbst, Haltung zu zeigen, als sie die Tür öffnete. Doch auf das Aufgebot an Uniformträgern, das sich vor ihrer Tür drängelte, war sie dann doch nicht gefasst.
»Ja, bitte?«, erkundigte sie sich förmlich. Aus den Augenwinkeln warf sie einen prüfenden Blick rechts und links den Gang hinunter, wo die Neugierigen die Köpfe aus ihren Abteilen herausstreckten,
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