Wer braucht denn schon Liebe
zusammenzubrechen, straffte ihre Großmutter sich. »Deine Mutter hatte den Verstand verloren, und du warst noch ein Kind. Irgendjemand musste schließlich die Verantwortung übernehmen. Bevor du mich also weiter beschuldigst, solltest du dich mal ernsthaft fragen, ob du wirklich lieber in einem italienischen Slum aufgewachsen wärst als hier bei mir. Alles, was du bist, hast du mir zu verdanken.«
Na prima, das Totschlagargument par excellence.
Für Sekunden schloss Karen erschöpft die Augen, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Das Gefühlswirrwarr, das zwischen ihnen herrschte, war so einfach zu lösen. Ihre Großmutter brauchte nur ein wenig Reue und Einsicht zu zeigen. Schon würden sie sich weinend in die Arme fallen. Wenn ihre Oma ihr versicherte, dass sie alles ganz schrecklich bedauerte. Doch die alte Frau tat ihnen beiden nicht den Gefallen. Stattdessen verschanzte sie sich hinter einer Mischung aus Sturheit und Rechthaberei und zwang Karen damit zu handeln.
»Gleich morgen suche ich mir eine eigene Wohnung. Es ist besser so«, entschied sie.
Ihre Großmutter zuckte zusammen, als hätte Karen sie geschlagen. »Aber du bist vorbestraft. Da findet man nicht so schnell eine Wohnung«, geiferte sie.
So viel Gehässigkeit.
»Lass das ruhig meine Sorge sein.« Karen wandte sich ab, doch als sie den ängstlichen Blick ihrer Großmutter auffing, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Darum ist es dir also in Wirklichkeit gegangen. Nicht ich war damals das Problem, sondern du selbst. Du hattest Angst, uns beide zu verlieren. Mutter und mich. Du wolltest nicht alleine bleiben!«
Die Gesichtszüge der alten Frau verfielen zu einem einzigen Faltenmeer. »Ich habe mein eigenes Leben aufgegeben, weil es deiner Mutter einmal besser gehen sollte als mir. Doch was war der Dank?« Verbittert presste sie die Lippen aufeinander. »Und nun willst du mich auch noch verlassen. Wer weiß denn, wie viel Zeit mir noch bleibt?«
Karen dachte an die gemütliche, lichtdurchflutete Küche in Pagani, wo ihr Fast-Stiefvater Federico mit seiner Familie lebte, zu der sie um ein Haar auch gehört hätte. Plötzlich betrachtete sie die Küche ihrer Großmutter mit anderen Augen. Das Küchenbuffet aus weißem Kunststoff mit den Kanten aus blitzendem Edelstahl. Das durchgesessene Polster der Eckbank mit dem bunten Blümchenmuster und die Platzdeckchen mit Namenszug auf dem Tisch. Ein Weihnachtsgeschenk von Karen an ihre Großmutter, das noch aus Grundschultagen stammte.
Wäre es wirklich so viel schlimmer gewesen, in Pagani aufzuwachsen als hier in Meerbusch? Im Nachhinein war ein Vergleich sinnlos.
Erschöpft räumte Karen ihr Glas in die Spülmaschine, die wie üblich leer war. Es war zwecklos, dieses Gespräch fortzusetzen. Sie fühlte sich innerlich selbst viel zu versteinert, um noch flexibel auf die Halsstarrigkeit ihrer Großmutter zu reagieren.
»Ich bin übrigens nicht vorbestraft – auch wenn du es nicht wahrhaben willst«, warf sie ihrer Großmutter über die Schulter hinweg zu.
»Aber die Polizei hat dich verhaftet, und das ist auch nicht sehr viel besser«, beharrte Oma Käthe auf dem letzten Wort, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Enkelin die Tür hinter sich zuzog.
Leise aufstöhnend warf Karen sich der Länge nach aufs Bett. Sie schloss die Augen und versuchte positiv zu denken. Soweit das angesichts einer Verhaftung durch den italienischen Grenzschutz mit der Folge sich daraus ergebender diplomatischer Verwicklungen überhaupt möglich war. In der Tat war ihre Verhaftung ein Schock für sie gewesen. Doch anstatt sich um sich selbst zu sorgen, quälte sie die Sorge um Lorenzo. Die Vorstellung, er müsste wegen ihr wie der Graf von Monte Christo die kommenden Jahre seines Lebens in einem feuchten Kellerverlies bei Wasser und Brot verbringen, nur weil es der Polizei auf wundersame Weise gelungen war, eine Verbindung von Karens gefälschtem Pass zu Lorenzo herzustellen, schnürte ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Kehle zu. Kein Wort, das ihn belasten konnte, kam über ihre Lippen. Erst als man ihr erklärte, dass in einem Hotel auf Capri eine Karen Rohnert auf frischer Tat beim Stehlen erwischt worden war, die zufällig die gleichen Ausweisdaten aufwies wie Karen, berichtete sie der Polizei vom Diebstahl des Mietwagens und ihrer gestohlenen Gepäckstücke. Was eine Personenidentitätsnachfrage bei der deutschen Botschaft zur Folge hatte, die zwei weitere Tage in Anspruch nahm. Tage, die sie auf
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